Die sich verändernde Welt mit Herausforderungen wie dem Krieg in Europa, Großdemonstrationen in der westlichen Welt und dem spürbaren Klimawandel prägt die Gefahrenabwehrlandschaft zunehmend. Der Massenanfall von Verletzten (MANV) bleibt als ein zentrales Szenario in der Krisen- und Katastrophenplanung, aktueller denn je. Dies erfordert ein optimales Zusammenspiel verschiedener Akteure, um die Patienten bestmöglich zu versorgen. Neben der unmittelbaren Rettung der Patienten an der Einsatzstelle rückt immer stärker die weitere Versorgung in den entsprechenden Krankenhäusern in den Fokus. Diese Schnittstelle zwischen Rettungskräften und Kliniken erweist sich als verwundbarer und vielfältiger, als sie auf den ersten Blick erscheinen mag.
Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) definiert MANV als “ein[en] Notfall mit einer größeren Anzahl von Verletzten sowie anderen Geschädigten oder Betroffenen, der besondere planerische und organisatorische Maßnahmen erfordert, weil er mit der vorhandenen und einsetzbaren Vorhaltung der präklinischen und klinischen Versorgung nicht bewältigt werden kann.” (Glossar des Bundesministeriums für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, 2024). Hieraus geht bereits hervor, dass eine Überforderung der bestehenden Strukturen herrscht und so ein Ungleichgewicht zwischen Hilfsnachfrage und Hilfsangebot besteht.
Ebenfalls wird hier bereits auf die scheinbar getrennten Bereiche der Versorgung (Präklinik und Klinik) hingewiesen. Bedauerlicherweise unterlässt es das BBK, genau diese Schnittstelle eingehender zu betrachten.
Das Zusammentreffen der präklinischen und klinischen Strukturen kann im regelhaften Betrieb bereits eine Herausforderung sein, wenn auf beiden Seiten Personalmangel, Überforderung, Missverständnisse oder unterschiedliche Anspruchshaltungen aufeinandertreffen. Im besonderen Umfeld eines MANV sind diese Faktoren sehr ausgeprägt und belasten die Arbeit an der Schnittstelle erheblich. Hierbei sollte bedacht werden, dass eine ineffiziente Schnittstellenarbeit weniger das Personal auf beiden Seiten belastet, sondern vor allem das höchst gesetzte Schutzgut des Gesundheitssystems in Gefahr bringen kann: den Patienten.
Beide Seiten, Rettungsdienst und Klinik, erfahren teils sehr ähnliche Probleme bei ihrer Arbeit an der Schnittstelle. Beispielsweise stehen innerhalb einer MANV-Situation alle Beteiligten unter erheblichem Zeitdruck. Gemäß der Definition des BBK reichen die vorhandenen Ressourcen auf beiden Seiten nicht aus, um die Situation wie ein Regelereignis abarbeiten zu können.
Um dies zu kompensieren, werden die bereits genannten “besonderen planerischen und organisatorischen Maßnahmen” (Glossar BBK, 2024) getroffen. Diese können eine Vielzahl an Änderungen beinhalten.
Nach der Empfehlung des BBK in Zusammenarbeit mit der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Krankenhaus Einsatzplanung e.V. (DAKEP e.V.), werden diese für den klinischen Bereich im entsprechenden Krankenhauseinsatzplan festgehalten.
Für die Präklinik wird das abweichende Vorgehen in den kommunalen oder regionalen MANV-Konzepten der Katastrophenschutzbehörden geregelt. Die genaue Zuständigkeit und der Umsetzungsgrad variieren je nach Bundesland.
Trotz der geforderten Vorausplanungen, der getroffenen Vorbereitungen und dem gewissen Bewusstsein für das MANV-Szenario, bleiben einige Fragen und Probleme offen.
Die spezifischen planerischen und organisatorischen Maßnahmen sind je nach Standort und Kapazität der Einrichtung unterschiedlich stark ausgeprägt, getestet und geübt worden. Da MANV-Lagen für den Einzelnen äußerst außergewöhnlich sind, verfügt der Großteil der Beteiligten nicht über die Routine, die erforderlich ist, um diese besonderen Maßnahmen erfolgreich umzusetzen und einen MANV effektiv abzuarbeiten. Aufgrund ihrer Definition sind solche MANV-Lagen besonders und außergewöhnlich, was den Aufbau einer entsprechenden Routine weiter erschwert.
Zusätzlich treffen an der Schnittstelle die verschiedensten Kulturen, Menschen und Systeme aufeinander, was zu zahlreichen Folgeproblemen führen kann.
Ein besonders anschauliches Beispiel hierfür sind die unterschiedlichen Sichtungs- oder Triage-Systeme. Die meisten Kliniken bedienen sich elaborierter Sichtungsalgorithmen (wie beispielsweise dem Manchester Triage System), um der kontinuierlich wachsenden Nachfrage nach Hilfeleistungen gerecht zu werden. Ziel ist es, schwer Erkrankte oder Verletzte rasch zu identifizieren, zu filtern und die Behandlungspriorität entsprechend dem Zustand des Patienten festzulegen.
Der Rettungsdienst greift auf diese Techniken nur in Großschadenslagen zurück und setzt hierbei auch andere Maßstäbe an. Das Ziel der präklinischen Sichtung ist die Festlegung der Transportpriorität (Bsp. mSTaRT, find the red und PRIOR).
Eine Erstbehandlung und Pufferung kann an der Einsatzstelle stattfinden und somit eine Sichtung erfolgen. Hier kann vor allem nach Verletzungs- und Erkrankungsmustern, welche eine intensivere Behandlung benötigen, als sie präklinisch darstellbar ist, gescreent werden.
Dieser Unterschied führt zu einigen Differenzen im Ergebnis und auch möglicherweise in der Zusammenarbeit an der Schnittstelle Präklinik und Klinik. Die ersten Differenzen tauchen bereits in der Anzahl der Sichtungskategorien auf. Während die Präklinik mit lediglich drei Kategorien arbeitet (rot, gelb, grün), teilt die verbreitete Manchester Triage die Patienten in fünf Kategorien (rot, orange, gelb, grün, blau) ein.
Sollte dieser grundlegende Unterschied auf beiden Seiten nicht bekannt und in vollem Bewusstsein getragen werden, besteht die Gefahr, dass bereits die ersten Fehleinschätzungen von Patientenzuständen auftreten können.
Die zuvor erwähnten „speziellen planerischen und organisatorischen Maßnahmen“ (Glossar BBK, 2024) greifen tiefgreifend in den täglichen Ablauf der Schnittstelle ein (veränderte Anfahrtswege, abweichende Übergabepunkte, verkürztes Übergabeintervall, unbekannte Beteiligte). Dies belastet ebenfalls die Schnittstelle und kann die Fehlerquote erheblich erhöhen.
Diese Maßnahmen dienen übergeordnet sicherlich zu einem abgestimmerten Ablauf und einem verbesserten Kontaktpunkt, sowie einem optimierten weiteren Verlauf in die klinische Struktur. Durch die deutlichen Abweichungen vom Alltag des Aufeinandertreffens kann dies jedoch beide Seiten immens belasten. Durch diese Abweichung muss davon ausgegangen werden, dass die Abläufe nicht so bekannt und stimmig sind wie im Regelprozess. Um die hieraus folgenden Fehler zu beheben, sollte jede Planung Kapazitäten freihalten, um den gewünschten Ablauf zu erreichen.
Auf der klinischen Seite ergeben sich ähnliche Herausforderungen. Die modifizierten Maßnahmen erfordern vom Personal eine rasche Anpassung in Denken und Handeln. Neben der bereits bestehenden Belastung durch eine Vielzahl von zu versorgenden Patienten, darunter teilweise schwer Erkrankte oder Verletzte, verändern sich die Abläufe teilweise grundlegend. Die Krankenhaus-Einsatzplanung für dieses Szenario wird aller Wahrscheinlichkeit nach neue Räume der Sichtung und Behandlung festlegen, um die Patientenkapazität zu erhöhen und den Fluss zu optimieren (vgl. Handbuch Krankenhausalarm- und Einsatzplanung, BBK 2020). Diese veränderten Flüsse, Abläufe und ggf. auch Materialien können für das Personal eine weitere Belastung und Unsicherheit im Verlauf darstellen. Hinzu kommt ebenfalls eine intern geänderte Hierarchie über eine Leitungsfunktion außerhalb der normalen Linienorganisation. Neben den normalen Schwierigkeiten, die Hierarchien mit sich bringen können, kann diese Abweichung in eine besondere Aufbauorganisation (bspw. Koordinierender Leiter, Krisenstab o.Ä.) weitere Unklarheiten über Zuständigkeiten oder den gewünschten Ablauf bringen. Auch ändert die Gegenseite die präklinische Versorgung, ebenfalls die Aufbauorganisation in Großschadenslagen. Somit kann davon ausgegangen werden, dass beide Seiten Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit haben werden und dies weitere Probleme verursachen kann. Diesen Umstand gilt es so weit wie möglich zu verhindern, um den Patienten in dieser außergewöhnlichen Lage vor Schaden zu bewahren.
Lösungsansätze
Ein Ansatz besteht darin, den Zustrom in die Kliniken zu begrenzen und zu steuern. Hierfür werden beispielsweise Behandlungsplätze am Schadensort eingerichtet, um eine Pufferung und Erstversorgung der Patienten zu ermöglichen. Dies trägt dazu bei, die örtlichen klinischen Kapazitäten zu entlasten und einen geordneten Fluss in die Kliniken zu gewährleisten. Eine solche Planung kann auch durch im Voraus festgelegte Aufnahmekapazitäten der Kliniken (vgl. Wellenpläne) unterstützt werden.
Ebenso wird die lokale Schnittstelle über die Nutzung von Luftrettungsmitteln entlastet. So können Patienten weitab vom Schadensort versorgt werden, was die lokalen klinischen Strukturen weiter entlastet.
Diese Vorarbeit kann Kliniken soweit entlasten, dass diese gar nicht in die vom BBK (2024) genannten „besonderen organisatorischen und planerischen Maßnahmen“ umsetzen müssen. Insbesondere die Kliniken in unmittelbarer Nähe des Schadensortes werden dennoch einen spürbar erhöhten Patientenstrom verzeichnen. Allerdings besteht die Möglichkeit, diesen gegebenenfalls so zu steuern, dass eine reguläre Arbeitsweise weiterhin möglich ist.
Seitens der Kliniken sind explizite MANV-Planungen teils gesetzlich vorgeschrieben, so zum Beispiel in Baden-Württemberg (Landeskrankenhausgesetz Baden-Württemberg) oder Sachsen (Sächsisches Gesetz über den Brandschutz, Rettungsdienst und Katastrophenschutz). Dies schafft eine gewisse Klarheit und zumindest ein begrenztes Bewusstsein für das Szenario.
Für den präklinischen Bereich gibt es äquivalente und flächendeckende rechtliche Verpflichtungen. Der MANV-Fall wird im präklinischen Umfeld, sowohl durch den Rettungsdienst als auch durch den Katastrophenschutz, geplant und geübt.
Eine mögliche Lösung für die Schnittstellenproblematik, sowohl für die Planung als auch die operative Bearbeitung eines MANV-Szenarios, liegen vor allem in der gemeinsamen Zusammenarbeit. So kann die Ungewissheit über die veränderten Abläufe auf beiden Seiten erhellt werden und ein gegenseitiges Verständnis für die getroffenen Maßnahmen und Änderungen geschaffen werden. Sind die gemeinsamen Konzepte und folgend auch Übungen aufeinander abgestimmt, werden zahlreiche Fallstricke im Voraus behoben oder abgemildert. Insbesondere gemeinsame Übungen können auf beiden Seiten Multiplikatoren bilden, die im Realfall Verständnis schaffen und die Abläufe glätten. Organisatorisch lassen sich Übungen beispielsweise durch die nahtlose Integration präklinischer Simulationen bis in die Kliniken ergänzen. Ebenso können Übungen in Notaufnahmen oder auf Intensivstationen unter Einbezug des Rettungsdienstes realitätsnaher simuliert werden.
Auf taktischer und strategischer Ebene sollte zusätzlich ein regelmäßiger Austausch über aktuelle Themen erfolgen. Dies fördert einerseits das notwendige Verständnis für die allgemeine Situation und Arbeitsweise des Gegenübers. Andererseits verhindert es, insbesondere bei Personalwechseln, dass ein Kennenlernen erst innerhalb hochkritischer Situationen stattfinden muss. (vgl. „In der Krise Köpfe kennen“ – 3-K-Prinzip nach BBK).
Fazit & Ausblick
Der MANV-Fall stellt die Folge zahlreicher tragischer Grundereignisse dar und muss daher im Bewusstsein der präklinischen und klinischen Gefahrenabwehr präsent sein. Für aktuell vorherrschende gesetzliche Unklarheiten bleibt zu hoffen, dass sich lokale Strukturen der Wichtigkeit einer Vorausplanung und des Zusammenspiels an der Schnittstelle im Klaren sind.
Das Szenario MANV muss ganzheitlich betrachtet werden. Der Patient muss im Mittelpunkt stehen und daher ist eine Planung, vom Eintreten des Schadens bis zur Behebung oder endgültigen Behandlung des patienteneigenen Schadens, als unumgänglich. Weiterhin benötigt es Konzepte, Tests und Übungen über die gesamte Behandlungskette, einschließlich der klinischen Schnittstelle und der innerklinischen Prozesse.
Das MANV-Ereignis kann erst als abgeschlossen betrachtet werden, wenn die betroffenen Kliniken in den Normalbetrieb übergehen und so wieder vollumfänglich für die Regelversorgung der Bevölkerung zur Verfügung stehen. Eine Verlagerung des MANV-Ereignisses in die Kliniken sollte daher keine Option in der Planung oder auch der operativen Bearbeitung eines Szenarios sein.
Crisis Prevention 1/2024
Max Dirkschnieder
B.Sc. Management in der Gefahrenabwehr
Mitglied des wissenschaftlichen Beiratsder DAKEP e.V.
Bernd Waiblinger
Leiter Stabsstelle Sicherheitsmanagementim Klinikverbund Südwest
Mitglied des wissenschaftlichen Beiratsder DAKEP e.V.