Gerne und auch durchaus kontrovers wird der Einsatz der Bundeswehr im Innern diskutiert; häufig bestehen Fehleinschätzungen darüber, was die Bundeswehr darf und noch mehr darüber, was sie unter heutigen Bedingungen zu leisten in der Lage ist. Artikel 35 GG beschreibt die Möglichkeiten des Einsatzes bei Amtshilfe und in Katastrophenlagen; in der Regel ist die Grundlage Art. 35 Abs.1 GG., der die Verpflichtung von Dienststellen des Bundes und der Länder beschreibt sich gegenseitig – auf Antrag – zu unterstützen, wenn die eigenen Kräfte und Mittel nicht ausreichen. Art. 87a Abs.4 hingegen beschreibt den Einsatz im Inneren Notstand – eine Ausnahmesituation, die glücklicherweise in der Geschichte von Nachkriegsdeutschland bisher nicht eingetreten ist und die nach menschlichem Ermessen in absehbarer Zeit auch keine Rolle spielen wird.
Auf der Grundlage des Art. 35 Abs.1 GG sind auch jetzt wieder Hilfesleistungen abgerufen worden. Nicht alles, was gewünscht wird, kann oder darf geleistet werden: Kapazitäten müssen vorhanden sein, zugleich aber darf auch der gewerblichen Wirtschaft, wenn sie zeitgleich die gleiche Leistung erbringen kann, durch die Bundeswehr keine Konkurrenz entstehen. Grundsätzlich handelt es sich aber um nicht-hoheitliche Aufgaben in dieser Lage, im Wesentlichen um technische oder logistische Amtshilfe; zwar wäre auch die Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben denkbar, aber nur, wenn der Bedarf entstünde und die rechtlichen Voraussetzungen erfüllt wären.
Fähigkeiten
Der Sanitätsdienst der Bundeswehr steht zu Recht in einem guten Ruf – hervorragende Ärzte, Pfleger und sonstiges Personal sind vorhanden, auch die Infrastruktur, Labore, Lager sind durchaus nennenswert. Was aber gern übersehen wird, ist, dass es sich dabei nur um einen relativ kleinen Teil der Gesundheitsversorgung in Deutschland handelt: den 370.000 Medizinern in Deutschland stehen ca. 3.000 Bundeswehrärzte gegenüber; 5 Krankenhäuser sind es bei der Bundeswehr gegenüber ca. 400 im zivilen Bereich, sodass es sich nur um ca. 1 % der Kapazität der medizinischen Versorgung in Deutschland handelt. Hinzu kommt, dass bei den Bw-Krankenhäusern 60 % der Betten auch in „normalen“ Zeiten zivil belegt sind und dieser Anteil jetzt auf 80 % erhöht wurde. Besonders zu Anfang der Krise zielten viele Anträge auf die knappe Ressource Sanitätsdienst und mussten daher abschlägig beschieden werden. Neben dem Sanitätsdienst der Bundeswehr stellt die ABC Abwehr Truppe Fähigkeiten bereit, die in einer Pandemie-Lage von großer Bedeutung sein können, da sie zur Personen-, Material- oder auch Flächendekontamination in der Lage ist. Auch hier sind es nicht mehr die Kapazitäten wie in früheren Zeiten der umfassend geplanten Landesverteidigung, aber dennoch nennenswert.
Gerade zu Beginn der Krise, als Lieferketten im größerem Umfang unterbrochen wurden, war eine Spezialfähigkeit dieser Truppe von großem Interesse: Auf Grundlage eines Amtshilfeersuchens des Freistaates Bayern konnte die ABC Abwehrtruppe nachweisen, dass sie schnell und unkompliziert in der Lage war, einige Tonnen eines Desinfektionsmittels auf der Basis von Wasser (Essigsäure, nicht Alkohol) herzustellen, so dass die Entsorgung unproblematisch war und das Ganze bei überschaubaren Kosten (Größenordnung 15.000 € pro Tonne). Angesichts der dann doch nicht zusammengebrochenen Lieferketten blieb es aber bei der Demonstration dieser Fähigkeit auf dem Gelände der Bw-Uni in München.
Eine weitere Fähigkeit, die bei Bedarf zum Tragen kommen kann, war die Möglichkeit, FFP 2 u. 3-Masken, die ja normalerweise nur für den einmaligen Gebrauch vorgesehen sind, durch Hitzebehandlung zu dekontaminieren und so die Mehrfachnutzung zu ermöglichen – wichtig bei Engpässen oder für die Bundeswehr im Auslandseinsatz in Pandemie-Zeiten.
In einer Kooperation zwischen der Tiermedizinischen Universität Hannover und der Diensthundeschule wird ein Projekt verfolgt, mit dem durch Diensthunde eine Corona-Infektion mit einer (immerhin!) 70 %-Wahrscheinlichkeit bei Betroffenen „erschnüffelt“ werden kann. Zurzeit wird untersucht, ob sich diese These wissenschaftlich erhärten lässt.
Weitere Fähigkeiten bestehen in Luft- oder Straßentransportleistungen, ggf. auch militärisch gesichert, die zwar angesichts der zivil vorhandenen Kapazitäten nur punktuell relevant sein werden, aber in kritischen Situationen durchaus bedeutsam sein können.
Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, zivilen Behörden mit Personal in Notfällen auszuhelfen, solange Soldatinnen und Soldaten nicht in Grauzonen eingesetzt werden sollen, die mit hoheitlichen Aufgaben in Verbindung gebracht werden können.
Grundsätzlich gilt: Alle Hilfeleistungen, die nicht in Konkurrenz zu vorhandenen gewerblichen Leistungen stehen, können bei vorhandenen Kapazitäten und bei Vorliegen der rechtlichen Voraussetzungen erbracht werden.
Ablauf und Verfahren
Nach allem, was man hören kann, war beim Sanitätsdienst der Bundeswehr früher als in der öffentlichen Wahrnehmung die Gefahr einer Pandemie erkannt worden. Auch war im Verkehrsministerium frühzeitig die Gefahr gesehen worden, dass u. U. ein Drittel der LKW-Fahrer, die aus Osteuropa stammen, kurzfristig für die Logistikketten nicht zur Verfügung stehen könnten. Dennoch haben sich konkrete Hilfeersuchen über das Sanitätswesen hinaus erst im Laufe des März entwickelt. Häufig wirkte unser Land erschreckend unvorbereitet, und zeitweilig erschien eine weitaus kritischere Lage wahrscheinlich, als sie dann glücklicherweise eingetroffen ist. Angesichts der möglichen, letztlich nicht ausreichend abschätzbaren Gefahren hatte Mitte März die Verteidigungsministerin ein Kontingent von 15.000 Soldatinnen und Soldaten, zusätzlich zum vorhandenen Sanitätsdienst, bereitgestellt.
Natürlich waren das keine (ohnehin nicht vorhandene) Reserven, sondern Kräfte, die aus der Organisation herausgenommen werden mussten. Angesichts der vergleichsweise geringen Belastung durch Auslandseinsätze zurzeit und des schon verfügten Lock-Downs, auch in der Bundeswehr, war das relativ schnell machbar. Auch die dafür notwendige Führungsstruktur, die ja im Gegensatz zu früher nicht mehr zur Verfügung steht, da es kein Territorialheer mehr gibt, konnte problemlos dafür eingerichtet werden. Heer, Luftwaffe und Marine haben insgesamt dafür 4 Kommandobehörden als regionale Führungsstäbe mit ihren Truppenteilen bereitgestellt, die bei Bedarf, nach grundsätzlicher Weisung durch das BMVg bzw. die Streitkräftebasis, taktisch durch das Kommando Territoriale Aufgaben der Bundeswehr in Berlin geführt wurden bzw. werden. So wurde ad hoc eine Struktur, verteilt in Deutschland, eingerichtet, die für Hilfeleistungen direkt auf Truppenteile zurückgreifen konnte. Nach Aussagen des Inspekteurs der Streitkräftebasis, Generalleutnant Schelleis, war und ist die Zusammenarbeit aller Teilstreitkräfte erfreulich reibungslos erfolgt, die neue, temporäre Organisationsform war nach 1 1/2 Wochen arbeitsbereit.
Was wurde nun tatsächlich der Bundeswehr abverlangt?
Zu Anfang mussten zahlreiche Anträge zunächst abschlägig beschieden werden, weil der genaue Bedarf oder die rechtlichen Voraussetzungen unklar waren. Erst nach und nach wurden die für die Beratung eingerichteten Verbindungskommandos (Landeskommandos, Bezirks- und Kreisverbindungskommandos, insgesamt 434 in Deutschland, überwiegend mit Reservisten besetzt, von denen Anfang April 125 aktiviert wurden) auch tatsächlich genutzt, sodass Anträge schnell und mit Aussicht auf Erfolg bearbeitet werden konnten. Beantragt und geliefert wurden insbesondere medizinisches Material, Medikamente, Schutzkleidung, Röntgenmessgeräte, auch Fiebermessgeräte aller Art. Zu Anfang wurden auch Masken und Schutzausrüstung transportiert, z. B. 25 Millionen Schutzmasken auf Antrag des Gesundheitsministeriums vom Flughafen Leipzig, wo sie mit einem Großraumflugzeug angeliefert wurden, nach Berlin oder auch nach Schleswig-Holstein. Zum Teil wurden die Schutzmasken in Bw-Liegenschaften sicher zwischengelagert, da es die Sorge gab, dass in ungesicherte Lager eingebrochen werden könnte. Die weitere Verteilung dieses Materials ist dann in den Bundesländern unterschiedlich vorgenommen worden, z. T. gewerblich, z. T., wie in NRW, durch THW und Feuerwehren.
Zu den frühen Hilfeleistungen der Bw gehört auch der Lufttransport deutscher Staatsbürger aus China und deren Unterbringung in Unterkünften der Bw zu Quarantäne-Zwecken.
Seit Anfang April war ein personeller und materieller Schwerpunkt der Hilfeleistung die Bereitstellung von Corona-Testeinrichtungen oder die Unterstützung bestehender Testeinrichtungen mit Personal und Material in verschiedenen Bundesländern.
Zu den Unterstützungsleistungen, die nur wenig Aufmerksamkeit erzielt haben, aber lokal von großer Bedeutung sein können, ist die Abordnung von Soldaten und Soldatinnen zu Gesundheitsämtern als sog. „Containment Scouts“, die bei der Verfolgung von Infektionsketten helfen sollen. Die Unterstützung der insgesamt 121 Gesundheitsämter durch Angehörige des „Einsatzkontingents Corona“ erfolgt auf Amtshilfeersuchen der jeweiligen Bundesländer.
Eine weitere, auch wenig Aufmerksamkeit erzeugende Unterstützungsleistung durch die Bundeswehr findet nach wie vor in den Erstaufnahmeeinrichtungen für Flüchtlinge statt.
In diesen beiden letztgenannten Fällen ist das BMVg und die Streitkräftebasis sehr darauf bedacht, dass nicht der Eindruck entsteht, dass Bw-Angehörige, zumal noch in Uniform, hoheitliche Aufgaben wahrnehmen könnten, vielmehr handelt es sich um „helfende Hände“, wie sie z. T. auch jetzt in Pflegeeinrichtungen zum Einsatz gekommen sind.
Ein großer Teil der mehr als 500 Amtshilfeersuchen sind bereits abgearbeitet; in konkreter Hilfeleistung eingebunden sind aktuell 700 Soldaten. Hinzu kommen eine ganze Reihe weiterer Bundeswehrangehöriger, die z. B. in der Bearbeitung der Anträge, in Befehlsgebung und Führung eingebunden sind in den beteiligten regionalen Führungsstäben und Truppenteilen. Insgesamt sind aber gegenwärtig nur etwa 2.000 der von der Ministerin angebotenen 15.000 Kräfte durch Corona-Einsätze gebunden. Daher gibt es Bestrebungen, kontrolliert und flexibel in den „Normalbetrieb“ zurückzugehen, ggf. aber schnell wieder auf neue Amtshilfeersuchen reagieren zu können.
Resümee
In der Rückschau auf einen – im internationalen Vergleich – glimpflichen Verlauf der Pandemie in Deutschland bleibt ein etwas zwiespältiger Eindruck zurück:
Bundesregierung und Länder haben schnell und offenkundig erfolgreich reagiert. Die Bundeswehr war in der Lage, aus der bestehenden Organisation heraus eine regionale Struktur zu schaffen, die teilstreitkraftübergreifend effizient und ohne das oft zu beobachtende Zuständigkeitsdenken zu helfen in der Lage war und auch noch deutlich mehr hätte leisten können. Glücklicherweise wurde ein großer Teil des zur Verfügung gestellten Kontingents bisher nicht gebraucht.
Gleichwohl bleiben Fragen:
- Ist nicht in Zeiten der Rückbesinnung auf Landesverteidigung und der auch zukünftig notwendigen Auslandseinsätze eine feste Organisation einschließlich zugeordneter Kräfte erforderlich, die sich auf die im Lande notwendigen Aufgaben konzentriert? Dazu könnten überwiegend Reservisten ausgebildet und bereitgehalten werden. Amtshilfe und Katastropheneinsätze werden immer wieder erforderlich sein, ebenso die Hilfeleistung der Bundeswehr für Partner in der „Drehscheibenfunktion Deutschland“. Aus dem vielzitierten „Single Set of Forces“ alle diese Ansprüche zu befriedigen, wird zunehmend ein Spiel mit vielen Bällen, das nicht immer gelingen kann.
- Was ist unser Land bereit zu lernen für die Zeit „nach Corona“? Die Bundestagsdrucksache von Anfang 2013 „Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012“ liest sich wie eine erschreckend weitsichtige Vorhersage der gegenwärtigen Corona-Pandemie, selbst in Einzelheiten, die allerdings noch pessimistischer eingeschätzt wurden als wir es bisher erlebt haben.
Schlussfolgerungen wurden daraus erkennbar keine gezogen. Schließlich wurde die Wahrscheinlichkeit des Ereignisses als „einmal in 100 Jahren“ beurteilt. Den „Worst Case“ zu denken, ist unpopulär.
Crisis Prevention 2/2020
Hans-Herbert Schulz