Covid-19 – Herausforderung für den gesundheitlichen Bevölkerungsschutz

Björn Stahlhut

DRK

Oft sind es die kleinen Dinge, die den Unterschied machen. So auch in der aktuellen „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“, wie die gegenwärtige Covid-19-Pandemie nach Paragraf Fünf des Infektionsschutzgesetzes (§ 5 IfSG) benannt wird. Neben einer auf Hochtouren laufenden Impfstoffentwicklung und -beschaffung, neben einer millionenschweren Stärkung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes und vielen Milliarden für den Erhalt der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, kommt es besonders auf drei kleine Buchstaben an. AHA ist in aller Munde: Abstand halten, Hygiene beachten und im Alltag Masken tragen. Man sieht, dass diese kleinen Dinge tatsächlich den Unterschied machen. Denn vielerorts hört man Ärzteschaft und Apotheken sagen, dass seit dem letzten Frühjahr Erkältungskrankheiten, Magen-und-Darm-­Erkrankungen, aber auch Patienten mit Läusebefall weniger wurden.

Dass es sich hierbei nicht nur um eine „gefühlte Temperatur“ handelt, belegen Berichte und Bulletins des Robert-Koch-Instituts. So ist in den GrippeWeb-Wochenberichten des RKI zu lesen, dass die von der Bundesregierung beschlossenen Kontaktbeschränkungen zu einer deutlichen Reduzierung bei akuten Atemwegserkrankungen, bzw. grippalen Infekten geführt hätten. Mit Beginn der Kontaktbeschränkungen habe auch die Grippesaison abrupt geendet, so das RKI. In seinen Epidemiologischen Bulletins weist das RKI dann auch darauf hin, dass in nahezu allen wichtigen Infektionskrankheiten, wie etwa Norovirus-Erkrankungen, im Jahre 2020 niedrigere Fallzahlen erreicht wurden als im Jahre 2019. Der Vollständigkeit halber ist allerdings darauf hinzuweisen, dass AHA möglicherweise nicht die einzigen Faktoren sind, die die veröffentlichten Zahlen geringhalten. Es ist nicht auszuschließen, dass eine gewisse Anzahl von Fällen durch die geringere Zahl von Arztbesuchen oder Apothekengängen schlicht unentdeckt blieb.

Der Rettungsdienst in vorderster Linie

Die Notfallrettung und auch der Krankentransport führen ihre Aufgaben in Zeiten einer Pandemie mit einer Vielzahl von Herausforderungen und Unsicherheiten durch. Anders als viele andere Arbeitnehmer können diese Menschen, ob sie nun Notfallsanitäter, Rettungsassistent, oder Rettungssanitäter heißen, ihren wichtigen Dienst nicht von zu Hause aus erledigen. Während die Republik zuhause bleiben soll, sind sie auf der Straße und erbringen ihre Leistung, um im Pandemie-Jargon zu bleiben, körpernah.

Daher müssen Keimverschleppungen, Infektion der Patienten und Gefährdungen des Rettungsdienstpersonals durch wirkungsvolle Maßnahmen unbedingt verhindert werden. Dazu hat zum Beispiel der niedersächsische Landesausschuss Rettungsdienst in Zusammenarbeit mit dem Niedersächsischen Landesgesundheitsamt Empfehlungen für eine vereinfachte und angemessene Vorgehensweise erarbeitet.

Was zunächst gar nicht spektakulär klingt, birgt doch eine Aussage mit großer Tragweite in sich. Nämlich, dass die „normalen“ Regelungen und Verfahren zu Desinfektion und Hygiene in der Notfallrettung und im Krankentransport für die Bewältigung einer Pandemie schlicht zu kompliziert sein müssen.

Die Niedersachsen folgen daher nachfolgenden Prinzipien: Sie reduzieren die Auswahlmöglichkeiten bei den Hygiene- und Schutzmaßnahmen, also beispielsweise bei Ausrüstungen, Vorgehensweisen und Desinfektionsmitteln, auf das Notwendige und Praktikable. Sie bündeln Maßnahmen und verzichten auf allein historisch begründete und wissenschaftlich oft nicht belegte Vorgehensweisen. Und letztlich wählen sie Desinfektionsmittel und -verfahren, die eine schnelle Wiedereinsatzbereitschaft der Rettungsmittel ermöglichen.

Gerade der letztgenannte Punkt scheint mir besonders bedeutend zu sein. Das schnelle Wiederherstellen von Status 1 oder Status 2 (Frei auf Funk, Frei auf Wache) gegenüber einem langfristigen und manchmal auch langwierigen Status 6 (Außer Dienst) entscheidet in allen Lagen über die Leistungsfähigkeit der Notfallrettung. Es erinnert mich so ein wenig an den Begriff aus der militärischen Taktik „Wirkung geht vor Deckung!“, wobei Status 1 und 2 in diesem Kontext „Wirkung“ bedeuten.

Wie kann so etwas aber gelingen? Auch hier gilt der Satz „Keep it simple!“. Bereits im gemeinsamen Ebola-Einsatz des Deutschen Roten Kreuzes mit dem Sanitätsdienst der Bundeswehr in Liberia in den Jahren 2014/15 wurden nach kurzer Zeit Rettungsmittel aufgebaut und eingesetzt, die schnell zu desinfizieren waren. Die sogenannte Schwarz-Weiß-Trennung stand im Vordergrund. Dies war zu erreichen durch einen Patientenraum mit geringerer Detaillierung und die Verwendung von Folien, die nach einer Patientenversorgung sozusagen „im ganzen Stück“ dem Fahrzeug entnommen und entsorgt werden konnten. Dies reduzierte die Zeit bis zum Wiederherstellen der Einsatzbereitschaft nochmals deutlich. Gerade bei knappen Ressourcen ein wichtiger Vorteil. (Eine Desinfektion eines kompletten Fahrzeuges nimmt je nach Krankheitserreger allgemein zwischen 15 und 40 Minuten in Anspruch.)

Wenn es nun richtig ist, dass Virologen schon heute von etwa 40 bereits bekannten zoonotischen Erregern ausgehen, die ein pandemisches Potential entfalten, das mit Sars-CoV-2 vergleichbar ist, und Globalisierung, Urbanisierung, Rückgang von Biodiversität, Bevölkerungswachstum und Klimawandel die Verbreitung von Infektionskrankheiten befördern, dann tun wir auf dem europäischen Kontinent gut daran, uns für die Zukunft auf diese Lagen einzustellen. Und das bedeutet für Fahrzeuge, Medizinprodukte und die Hilfsmittel, aber auch für die persönliche Schutzausstattung ein Denken in der Kategorie „Einfach aber wirkungsvoll!“. Vielleicht können wir dann Strukturen und Ressourcen im gesundheitlichen Bevölkerungsschutz so bauen, dass sie so patientenorientiert wie nötig, aber auch so einfach wie möglich sind.

Die Notfallrettung ist in Zeiten einer Pandemie mit einer Vielzahl von...
Die Notfallrettung ist in Zeiten einer Pandemie mit einer Vielzahl von Herausforderungen und Unsicherheiten verbunden.
Quelle: DRK

Zweite Welle

Nach dem epidemiologisch sehr ruhigen und schon fast normalen Sommer schienen die Risiken der Pandemie schon beinah wieder aus den Köpfen der Bevölkerung, vor allem aber aus den Köpfen der Entscheidungsebene verschwunden. Dabei hatten die Fachleute längst davor gewarnt, dass eine zweite Welle im Herbst, die mitten durch die ohnehin Influenza-anfällige kalte Jahreszeit führt, sehr viel gefährlicher sein würde als die erste Welle.

Die in diesen Tagen sehr häufig als Referenz verwendete Spanische Grippe hätte dabei tatsächlich gute Dienste geleistet, um einzuschätzen, wie sich eine weltweite Pandemie nicht an künstlich gesetzte politische Rahmenbedingungen oder gar Staatsgrenzen hält.

In einem beachtenswerten Aufsatz zur Spanischen Grippe schreiben Ralf Vollmuth und André Müllerschön in der Wehrmedizinischen Monatsschrift vom Januar dieses Jahres: „Die Spanische Grippe trat in drei Wellen auf, die sich teilweise überlagerten. Die vergleichsweise harmlose „Frühjahrswelle“ des Jahres 1918 breitete sich mit Truppentransportern, Handelsschiffen und Kriegsgefangenen von Nordamerika nach Europa, Südamerika, auf den indischen Subkontinent sowie nach Asien und Afrika aus.“

„In den meisten europäischen Ländern gingen die Zahlen der Neuinfektionen wieder zurück, jedoch brach in Folge einer Mutation eine schwerere und meist in Kombination mit Broncho­pneumonien auftretende Grippe-Pandemie als zweite Welle aus.“

„Mit dem Jahreswechsel 1918/19 begann die dritte und letzte Welle, die von sehr unterschiedlichen Krankheitsbildern und Verläufen geprägt war. Im Frühjahr 1919 waren in den meisten Ländern rückläufige Krankheitszahlen feststellbar, wobei es bis Mitte der 1920er Jahre immer wieder zu Neuinfektionen kam.“

Wer diese Zeilen liest, wird umso mehr verblüfft sein, wie die Welt in eine derart starke zweite Welle laufen konnte. Bisher hält sich Sars-CoV-2 – und das ist eine Bewertung mitten aus der zweiten Welle – ziemlich genau an ein 100 Jahre altes Drehbuch.

Aber können die schnelle Desinfektion von Rettungs- und Einsatzmitteln und die Befolgung der AHA-Regel in unserer hochtechnisierten Zeit wirklich der Weisheit letzter Schluss sein? Kann es wirklich sein, dass wir die Covid-19-Pandemie dieser Zeit genauso bekämpfen, wie die Spanische Grippe vor 100 Jahren?

Strategische Überlegungen

Abseits der rein praktischen Bestimmungen des Lockdowns, was ja nichts anderes heißt als Ausgangssperre, der Einhaltung der AHA-Regeln und der wirkungsvollen Desinfektion und schnellen Wiederherstellung der Einsatzbereitschaft von Rettungs- und Einsatzmitteln möchte ich aber auch noch zwei eher strategische Gedanken bei Ihnen lassen.

Der erste Gedanke rührt vom Abend des 13. Dezember 2020, als in der Telefonkonferenz der Bundeskanzlerin mit den Regierungschefs weitreichende Lockdown-Beschlüsse ergingen. Es ist ein sicherheitspolitischer Gedanke:

Wenn die weltweite Bewältigungsstrategie der Sars-CoV-2-Lage aus harten Beschränkungen, rigiden Hygienemaßnahmen und viel Impfstoff besteht, wird dann nicht automatisch die Kette aus schnellen und validen Forschungsergebnissen, deren verzugslose Umsetzung in genehmigte Impfstoffe, sowie deren nach dem Bedarf frei skalierbare Produktion, ein wesentlicher sicherheitspolitischer Faktor?

Bedeutet das dann nicht auch, dass diejenigen Staaten oder anderen „Player“, die diese Kette beherrschen, an Macht und geopolitischem Einfluss gewinnen können? Etwa, weil sie nicht nur auf das Hygiene-Goodwill der Bevölkerung angewiesen sind, sondern, als Staat, so schneller zur Normalität zurückkehren können, oder schneller wieder abwehrbereit sind gegen äußere und innere Gefahren? Oder können so nicht auch nicht-staatliche oder semi-staatliche „Player“ Einfluss auf die Geopolitik gewinnen, weil sie in der Impfstoffkette einen wichtigen Beitrag zur schnellen Bewältigung der Lage leisten können? Und wie lange wird es dann dauern, bis diese „Player“ sich von der Staatengebundenheit emanzipieren?

Wenn schon heute, wie zuvor erwähnt, eine Vielzahl von Erregern mit einem pandemischen Potenzial wie Sars-CoV-2 in der Welt ist, dann muss doch die Kette aus schnellem Forschen, schnellem Genehmigen und schneller Produktion in vielen Dosen das zentrale Projekt der Gesundheitssicherheit für die Staaten in Europa sein, oder?

Der zweite Gedanke beschäftigt sich mit dem Datenschutz! Mir kommt dabei der Fakt in den Sinn, dass die deutschen Behörden aktuell in bis zu 75 Prozent der Fälle die Infektionsquelle oder das Infektionsumfeld nicht kennen. Und mir kommen die Diskussionen in den Sinn, wie die "50er-Inzidenz" wieder erreicht werden könne, damit die Gesundheitsämter endlich wieder die Infektionsketten nachverfolgen und unterbrechen könnten. In den letzten Tagen kommt mir der Verdacht, dass es sich in Teilen um eine Phantomdebatte handelt.

Also: Könnte nicht z. B. die Corona-Warn-App wirkungsvoller sein, wenn es eine freiwillige Option für App-Nutzer gäbe, die dem Gesundheitsamt - besonders bei positivem Covid-19-Test – einen punktuellen Datenzugang ermöglichte?

Würde es nicht der Bevölkerung sehr viel mehr Handlungssicherheit in der Pandemie geben, wenn die zur eigenen Person verfügbaren Gesundheitsdaten in Echtzeit auf dem Smartphone so konzentriert würden, dass Ampelfarben individuelle Handlungsanweisungen gäben, wenn man das möchte?

Ich denke, wir müssen auch diese strategischen Überlegungen anstellen, wenn wir in der nächsten Pandemie nicht wieder nur auf das Hygiene-Goodwill und die Disziplin der Bevölkerung angewiesen sein wollen.


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