In den Einflussbereichen des hessischen Oberrheins (Hessisches Ried) und des hessischen Untermains, die eine Fläche von ca. 400 km2 umfassen, leben ca. 600.000 Menschen. Dies entspricht einem Bevölkerungsanteil von ca. 10 % des Landes Hessen. Eine Bedrohung dieses Gebietes durch eine Naturkatastrophe ist in erster Linie als eine Überflutung in Folge extremer Hochwasserabflüsse des Rheins und des Mains denkbar. Neben den Gefährdungen für Leib und Leben bei Überschwemmungen, würden sich die materiellen Schäden auf mehrere Milliarden Euro belaufen. Die letzten extremen Hochwasser fanden vor ca. 30 Jahren statt. Im März 1988 bedrohte ein Rheinhochwasser mit einem Abfluss von 5.270 m³/s am Pegel Worms die Region mehrere Wochen und konnte nur mit erheblichen Einsatz der zuständigen Wasserwehren und des Technischen Hilfswerks (THW) abgewendet werden.
Die häufigsten Gründe für das Versagen von Deichen bei einem Hochwasser sind:
- Grundbruch
- Böschungsbruch
- Innere Erosion
- Überströmung
Je länger ein Hochwasser andauert und mit einem hohen Wasserspiegel auf einen Deichkörper einwirkt, desto höher steigt die Sickerlinie an. Die damit zunehmende Durchfeuchtung des Deichs verschlechtert auch seine Standsicherheit, u.a. auch durch die Zunahme der Empfindlichkeit gegen Erschütterungen und zusätzliche Belastungen.
Ein schnell absinkender Wasserspiegel kann zu einer hohen inneren Belastung der wasserseitigen Böschung führen und damit zu einem Abrutschen der Böschung auf einer größeren Länge. Kommt eine zweite Hochwasserwelle hinzu, besteht die Gefahr eines Deichbruchs.
Deiche an Rhein und Main
Die ufernahen und meist baulich genutzten Flächen an Rhein und Main im hessischen Ried und am Untermain sind überwiegend durch Deiche mit einer Länge von ca. 145 km, von denen ca. 121 km im Eigentum des Landes Hessen stehen, geschützt. Diese Hauptdeiche, die wegen der meist im Winterhalbjahr auftretenden größeren Hochwässer auch Winterdeiche genannt werden, werden aufgrund der gesetzlichen Verpflichtung durch das Land unterhalten. Deichunterhaltungsmaßnahmen werden durch das Regierungspräsidium Darmstadt, Dezernat „Staatlicher Wasserbau“ mit der zugehörigen Deichmeisterei Biebesheim geplant und durchgeführt. Die Pflege der erosionsverhindernden Grasnarbe auf den Deichböschungen und die Wartung und Instandhaltung der im Deich befindlichen Sonderbauwerke, z. B. Siele, Pumpwerke, Scharten und der Betrieb der Verkehrslenkungsorgane werden durch die Deichmeisterei Biebesheim ausgeführt.
Gemäß der Verwaltungsvereinbarung zwischen den Ländern Baden-Württemberg, Hessen und Rheinland-Pfalz vom 28. Februar 1991 wurde ein Schutzziel gewählt, welches Schutz vor einem Hochwasserereignis bietet, das statistisch gesehen einmal in 200 Jahren vorkommt. Dies entspricht einem Abfluss von 6.000 m³/s am Pegel Worms. Neben Rückhaltemaßnahmen im Bereich des Oberrheins, welche noch nicht alle realisiert sind, wurde in Hessen ein umfangreiches Programm zur Deichsanierung durchgeführt. Allein an den landeseigenen Deichen wurden in den letzten drei Jahrzehnten über 260 Mio. € investiert. Derzeit erfolgt die Planung der Sanierung von kommunalen Deichen, welche noch nicht dem Stand der Technik entsprechen. Außerdem steht noch die Sanierung der sogenannten kommunalen „Flügeldeiche“ an, d.h. Deiche an Zuflüssen, welche durch ein Rheinhochwasser eingestaut werden.
Die Deiche an Rhein und Main wurden soweit möglich als mehrlagiger Erddamm ausgebaut. Dichtungselemente (Spundwände, Schlitz- und Rüttelschmalwände etc.) kommen immer dann zum Einsatz, wenn die Platzverhältnisse die notwendige Deichverbreiterung nicht zulassen. Zahlreiche Deichscharten wurden mit mobilen Hochwasserschutzelementen versehen. Es ist angestrebt alle Deichscharten mittelfristig mit einem redundanten doppelwandigen System auszustatten.
Unterhaltung der Deiche
Neben der Sanierung müssen die Deiche und zahlreichen Sonderbauwerke wie z.B. Schließen, Pumpwerke und Durchlässe unterhalten werden. Durch die Sanierung und der damit verbundenen Erhöhung und Verbreiterung der Deiche ist die zu unterhaltenen Grünfläche auf ca. 450 ha angewachsen. Da die Deiche zwischenzeitlich auch wertvolle Lebensräume für Fauna und Flora in der relativ dichtbesiedelten und zusätzlich durch extensiven Landwirtschaft geprägten Rhein-Main-Region darstellen, sind bei der Unterhaltung zahlreiche naturschutzrechtliche Vorgaben zu berücksichtigen ohne die Funktionalität des Schutzbauwerks zu gefährden.
Hinzu kommen auch die Auswirkungen des Klimawandels. Austrocknung des Oberbodens im Sommerhalbjahr schwächen immer mehr den Erosionsschutz, was bei Starkniederschlägen zur Schwächung des Deichs führen kann. Das bedeutsamste Sonderbauwerk stellt das Hochwassersperrtor in Ginsheim zur Absperrung des Schwarzbachs dar. Die Betriebstechnik zum Betrieb des Sperrtors wurde 2019 komplett modernisiert. Durch regelmäßigen Erprobungsbetrieb ist sichergestellt, dass das Hinterland an diesem sensiblen Punkt des Rheindeichsystems im Hochwasserfall geschützt wird.
Deichverteidigung
Im Hochwasserfall sind 5 Hochwasserstufen, welche an bestimmte Pegelstände an Rhein und Main gekoppelt sind, festgelegt.
Stufe I: Bereitschaft des Dezernats
Stufe II: Meldung an Katastrophenschutzbehörden, Kontrollfahrten, Vorbereitende Maßnahmen, Bereitschaft externe Fachberatung
Stufe III: 24 Stunden Besetzung der Einsatzzentrale auf der Deichmeisterei in Biebesheim; Besetzung der Fachberatung
Stufe IV: Aufruf der kommunalen Wasserwehren zur Deichverteidigung; regelmäßige Erstellung von Lageberichten und deren Verteilung an Katastrophenschutzbehörden und Kommunen
Stufe V: Einschränkung der Funktionssicherheit der Deiche – Katastrophenalarm
Das Dezernat „Staatlicher Wasserbau“ mit der zugehörigen Deichmeisterei berät und unterstützt die anliegenden Kommunen bei der Deichverteidigung. Hierfür ist auf der Deichmeisterei Biebesheim eine Einsatzzentrale zur Koordinierung dieser gesetzlichen Aufgabe eingerichtet. Während des operativen Einsatzes (ab Stufe III) ist die Deichmeisterei Biebesheim rund um die Uhr besetzt. Dort können die kommunalen Wasserwehren, je nach Entwicklungsstand des ablaufenden Hochwassers und auftretender Schadensbilder, Fachberatung anfordern. Damit die von der Überflutungsgefahr betroffenen Bürger sowie die ihnen zur Seite stehenden Behörden und Verbände ihren Dienst innerhalb der jeweiligen Wasserwehr effektiv leisten können, bietet das Dezernat „Staatlicher Wasserbau“ regelmäßig Schulungsveranstaltungen an.
Eine besondere Herausforderung ist die Deichverteidigung während laufender Deichsanierung. Je nach Vorwarnzeit werden Warn- und Einsatzpläne erarbeitet, um rechtzeitig Schutzmaßnahmen einzuleiten.
Aufgrund der zahlreichen Deichscharten insbesondere in urbanen Bereichen, kommt dem Einsatz von mobilen Hochwasserschutzelementen eine immer größere Bedeutung zu. Deren Funktionsfähigkeit und Vollständigkeit wird jährlich im Rahmen von Materialschauen durch das Dezernat „Staatlicher Wasserbau“ überprüft. Außerdem sind Übungen zum Aufbau der Elemente notwendig, damit es im Ernstfall zu keinen Verzögerungen kommt.
Digitales Deichkataster (DDK)
Die DIN 19712 sieht ein Deichbuch als wichtige Arbeitsgrundlage zur Überwachung der Deiche vor. Es soll über alle Einzelheiten des Bauwerks Aufschluss geben. Insbesondere sind die Daten zu dokumentieren, die für eine Beurteilung der Standsicherheit sowie zur allgemeinen Gefährdungsabschätzung des Bauwerks an allen Abschnitten notwendig sind. Mittels des Digitalen Deichkatasters wurde ein Geoinformationssystem aufgebaut, welches die Geobasisdaten der hessischen Verwaltung für Bodenmanagement mit den Deichfachdaten vereint und somit als Werkzeug zum Betrieb und zur Verwaltung der landeseigenen Winterdeiche an Rhein und Main in Hessen dient. Das Digitale Deichkataster in der aktuellen Version DDK 4.0 wird im Rahmen der Deichaufsicht, der Deichunterhaltung sowie der Liegenschaftsverwaltung eingesetzt. Im Hochwasser- und Katastrophenfall können den Einsatzkräften Unterlagen kurzfristig zur Verfügung gestellt und eine räumliche Orientierung geboten werden. Die Informationen, die früher lediglich in analoger Form teilweise an verschiedenen Stellen vorgehalten wurden, sind heute sämtlich im DDK hinterlegt und auch dezentral abrufbar.
Im Rahmen der Deichaufsicht sorgt das Regierungspräsidium Darmstadt dafür, dass es durch die Nutzungen an und im Deich, beispielsweise durch die Querungen von Versorgungsleitungen, Baumaßnahmen etc., nicht zur Einschränkung der Funktionalität des Deichs kommt. Einmal im Jahr findet eine Deichschau statt, bei der Schäden, unzureichende Unterhaltung und Bedrohungen für den Deich dokumentiert werden. Bei Bedarf werden entsprechende Anordnungen zur Beseitigung des Missstandes gegenüber den Verantwortlichen erlassen.
Hochwasservorsorge
Während in der Vergangenheit vor allem Wiederaufbau und technische Schutzmaßnahmen nach einem Hochwasserereignis im Mittelpunkt standen, haben seit dem Inkrafttreten der europäischen Hochwasserrichtlinie der Umgang mit dem Hochwasserrisiko und Präventionsmaßnahmen eine größere Bedeutung bekommen. Ein wichtiger Schritt ist dabei zunächst die genauere Kenntnis über die Hochwassergefahr. Das Regierungspräsidium Darmstadt hat für die überschwemmungsgefährdeten Gebiete, hinter den Deichen am hessischen Oberrhein (Lampertheim bis zur Mainmündung) und Main, Hochwassergefahrenkarten – und risikokarten erstellt.
Die Hochwassergefahrenkarten zeigen die Ausbreitung des Hochwassers bei bestimmten Hochwasserereignissen (z. B. dem 100-jährlichen Ereignis, das statistisch einmal in 100 Jahren erreicht wird) und geben die entsprechenden Überflutungshöhen über Gelände an. Damit kann jeder Bürger für sich ableiten, wie hoch das Wasser bei diesem Ereignis auf seinem Grundstück stehen würde und wie das eigene Haus und Inventar betroffen wäre.
Im Hochwasserrisikomanagementplan werden abschließend Maßnahmen vorgeschlagen, um das Risiko für Hochwasserschäden zukünftig zu vermindern. Es handelt sich dabei um eine Angebotsplanung ohne rechtliche Bindung.
Resümee
Der technische Hochwasserschutz ist ein Teil des Hochwassermanagements und nur begrenzt möglich. Deichaufsicht, Unterhaltung der Deiche und Deichverteidigung sind Teil der Daseinsvorsorge und bedürfen qualifizierten Personals. Auch in Zeiten ohne signifikante Hochwasserereignisse darf der Aufwand für die Unterhaltung der Deiche nicht dem Sparzwang unterworfen werden. Die Deichverteidigung bedarf im Ernstfall einer Vielzahl freiwilliger Helfer insbesondere bei Feuerwehr und THW, die einer regelmäßigen Schulung bedürfen. Die größtmögliche Vermeidung, Verminderung oder Begrenzung des Hochwasserrisikos, d.h. von potenziellen Hochwasserschäden ist auf allen Planungs- und Entscheidungsebenen zu berücksichtigen. Die derzeitigen Bestrebungen zur Verdichtung von bestehenden Siedlungsflächen in überschwemmungsgefährdeten Gebieten dürfen nicht zu einer Erhöhung des Hochwasserrisikos führen.
Die Auswirkungen des Klimawandels stellen den technischen Hochwasserschutz vor neue Herausforderungen. Flächen hinter Hochwasserschutzanlagen gilt es möglichst frei zu halten, um bei Bedarf Erweiterungen des Deichkörpers oder Deichrückverlegungen vornehmen zu können. Hochwasser ist und bleibt ein Naturereignis und wird in der Regel erst durch mangelndes Risikomanagement und nachlässige Unterhaltung von Hochwasserschutzanlagen zu einer Katastrophe.
Crisis Prevention 4/2020
Holger Densky
Dipl. Bauingenieur
Dezernatsleiter 41.6 - Staatlicher Wasserbau –
Regierungspräsidium Darmstadt
E-Mail: Holger.Densky@rpda.hessen.de