Tausende verzweifelte Menschen ohne jegliche humanitäre Versorgung am Budapester Westbahnhof; Frauen und Kinder, die sich zu Fuß von dort auf den Weg machen Richtung Westen und eine deutsche Willkommenskultur, deren Botschaft sich über die ganze Welt verbreitet. Jeder hat die Bilder vom September 2015 noch im Kopf und auch in der aktuellen Diskussion in Politik, Gesellschaft und Medien stehen der anhaltende Flüchtlingszustrom und seine Folgen für Deutschland und Europa im Mittelpunkt.
Wir werfen einen Blick zurück, als die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel am 4. September 2015 in Absprache mit dem österreichischen Bundeskanzler Werner Faymann die Grenzen öffnete, um eine humanitäre Katastrophe auf der sog. Balkanroute zu verhindern. Tausende Menschen, die tagelang in Budapest festsaßen, hatten sich zu diesem Zeitpunkt bereits zu Fuß über die Autobahn M1/A4 in Richtung Österreich aufgemacht; es war nur noch eine Frage von Stunden, bis sie die ungarisch-österreichische und im weiteren Verlauf die deutsch-österreichische Grenze erreichten.
Auf Bayern als angrenzendes Bundesland bzw. die bayerische Landeshauptstadt München als großes Bahndrehkreuz kam eine gewaltige Aufgabe zu. Innerhalb kürzester Zeit musste eine bis zum heutigen Tage funktionierende Logistik zur Versorgung, Unterbringung und Registrierung tausender Menschen aufgebaut werden, um diese dann auf die ganze Bundesrepublik zu verteilen. Bis dato lag die Zahl der Neuankommenden in ganz Bayern an Spitzentagen bei maximal wenigen hundert Flüchtlingen pro Tag.
Medizinische Versorgung
Ein logistisch wichtiges wie auch komplexes Thema war und ist die medizinische Versorgung sowie das sog. Erstscreening der neu ankommenden Flüchtlinge, um sowohl eine schnelle Versorgung medizinischer Notfälle zu gewährleisten, als auch die Ausbreitung eingeschleppter Krankheiten zu verhindern.
Am Hauptbahnhof München war bereits im Vorfeld der private Rettungsdienst Ambulanz Aicher München oHG als Mitglied des Medizinischen Katastrophen-Hilfswerks Deutschland e. V. (MHW) durch das städtische Referat für Gesundheit und Umwelt beauftragt, ankommende Flüchtlinge medizinisch zu versorgen und zu sichten. Die ursprüngliche tägliche Besetzung war dabei für ca. 250 - 500 Flüchtlinge geplant.
Das Hauptaugenmerk liegt neben der Versorgung auf der Erkennung typischer ansteckender Hygienekrankheiten, wie Läuse oder Krätze, sowie anderer Infektionskrankheiten (z. B. Grippe). Bis zum heutigen Tage ist diese Versorgungsstelle in Betrieb, wobei sich die Flüchtlingszahlen nach dem massiven Anstieg ab September 2015 aktuell wieder auf dem Ursprungsniveau einpendeln.
Bereits gut eine Woche vor Öffnung der Grenzen stiegen die Flüchtlingszahlen in München rasant an. So forderte der Einsatzleiter der Ambulanz Aicher am 1. September weitere Unterstützung durch das MHW an, da innerhalb weniger Stunden ca. 1.500 Flüchtlinge in Zügen aus Ungarn und Österreich eintrafen. Das MHW half kurzfristig mit der Errichtung mobiler Zelte und medizinischem Material, um eine zügige Versorgung der Menschen zu gewährleisten.
Medizinisches Katastrophen-Hilfswerk
Nach der Gründung des MHW im Jahr 2005 kamen während des G8-Gipfels im Jahr 2007 in Heiligendamm über den Verband erstmals gemeinsame Einheiten privater Unternehmen in der Katastrophenvorsorge zum Einsatz. Zweck des MHW ist es, die Ressourcen privater Unternehmen im Katastrophen- und Großschadensfall ergänzend zu den Einheiten der Hilfsorganisationen verfügbar zu machen und auf Anforderung der zuständigen Behörde / Einsatzleitung zur Verfügung zu stellen.
Neben den Einheiten privater Rettungsdienste beteiligen sich auch private Omnibus- und Hubschrauberunternehmen an Katastrophenschutzprojekten in Deutschland. So ist z. B. Personal des MHW-Mitglieds Autobus Oberbayern GmbH als Fachberatung für den Personentransport in der Koordinierungsstelle Flüchtlinge des Bundes tätig.
Seit Anfang 2014 ist das MHW in Bayern als erstes Bundesland als Katastrophenschutzeinheit nach Landesrecht anerkannt und seit Oktober 2015 assoziiertes Mitglied in der Arbeitsgemeinschaft Bevölkerungsschutz der Hilfsorganisationen. Durch wöchentliche Telefonkonferenzen und tägliche gemeinsame Lagemeldungen zu den regionalen Schwerpunkten der Flüchtlingshilfe ist auf dieser Ebene ein fundierter Informationsaustausch sichergestellt.
Aufgrund unzureichender Kapazitäten im Bahnhofsinnern wurde am Vorplatz des Münchner Hauptbahnhofs ein Behandlungsplatz mit eigenen Warte-, Behandlungs- und Isolationsräumen im 24-Stundenbetrieb geschaffen. Ausnahmslos alle ankommenden Männer, Frauen und Kinder mussten auch hier das Screening bzw. die Sichtung durchlaufen. Jede Person wurde mit Hilfe eines Dolmetschers durch einen Arzt/eine Ärztin nach ihrem Gesundheitszustand befragt und auf äußerliche Symptome einer Krankheit untersucht. Gearbeitet wurde in Teams bestehend aus einer ärztlichen und einer nichtärztlichen Einsatzkraft sowie einem/einer Dolmetscher/in.
Der Durchlauf pro Team betrug ca. 50 Personen pro Stunde, was einer durchschnittlichen Sichtungsdauer von ca. 70 Sekunden pro Person entsprach. Aus dem Stand konnten die Kapazitäten durch die privaten Rettungsdienste von einer regulären Screening-Einheit auf bis zu zehn Teams verzehnfacht und sogar weitere mobile Teams kurzfristig zur Verfügung gestellt werden. Offensichtlich erkrankte oder verletzte Personen, die einer weiteren notfallmedizinischen Behandlung bedurften, wurden umgehend in umliegende Krankenhäuser transportiert.
Hier standen durch die MHW-Mitglieder Ambulanz Aicher, MKT Rettungsdienst sowie RKT Regensburg rund um die Uhr eigene Schnelleinsatzgruppen zum Transport zur Verfügung, die im Bedarfsfall alarmiert wurden. Personen mit ansteckenden Krankheiten wurden einer weiteren Versorgung in eigens eingerichteten Isolationszentren zugeführt, um die weitere Verbreitung zu unterbinden.
Da sämtliche Erstaufnahmeeinrichtungen, denen die ankommenden Flüchtlinge zugeführt wurden, auch selbst über eine medizinische Grundversorgung verfügten und auch nach wie vor verfügen, wurde das Hauptaugenmerk auf das Erkennen akuter medizinischer Notfälle gelegt. Zur Reduzierung der Verweildauer pro Person wurde auf eine Hausarztversorgung unbedeutender Krankheiten und die Medikamentenausgabe in den Versorgungs- und Screeningstellen gänzlich verzichtet.
Insgesamt waren am Behandlungsplatz Hauptbahnhof in Spitzenzeiten bis zu zehn arztbesetzte Screening-Einheiten parallel in Betrieb. Als kurz nach Grenzöffnung ersichtlich wurde, dass die Flüchtlingszahlen am Münchner Hauptbahnhof weiterhin massiv ansteigen würden, wurde durch die Regierung von Oberbayern beschlossen, den Hauptbahnhof durch die Inbetriebnahme einer weiteren nahegelegenen medizinischen Versorgungsstelle an der Donnersbergerbrücke in München zu entlasten. Seit der Errichtung mit einer Kapazität von 1.500 Flüchtlingen wird diese je nach Bedarf und Tagessituation mit Personal besetzt.
Dazu wurde ab Samstag, den 5. September 2015, ein S-Bahn-Pendelverkehr zwischen diesen beiden Stationen aufgenommen. Als medizinische Versorgungsstelle wurde auf Anweisung des Regierungspräsidenten der Regierung von Oberbayern Christoph Hillenbrand kurzfristig eine ehemalige Werkstatthalle der Deutschen Bahn ertüchtigt, die am selben Tag um 12 Uhr durch das MHW in Betrieb genommen wurde.
Ging man in den ersten Stunden noch von Zahlen von ca. 5.000 - 10.000 Ankommenden in den nächsten fünf Tagen aus, so mussten diese bereits nach wenigen Stunden wieder korrigiert werden. Weitere tausende Flüchtlinge wurden nun bereits mit Bussen aus Ungarn und Slowenien direkt an die österreichische Grenze transportiert. Bis heute wurden über 150.000 Flüchtlinge durch die Einsatzkräfte des MHW versorgt.
Ab September waren täglich bis zu 300 Helferinnen und Helfer des MHW im Einsatz, um die beiden Versorgungsstellen mit notfallmedizinischem Personal zu unterstützen. Auf Grund der Langfristigkeit des geplanten Einsatzes wurden Einheiten privater Rettungsdienste über das Mitgliedernetzwerk des MHW aus ganz Süddeutschland (u. a. Promedic Rettungsdienst aus Karlsruhe oder Bäuerle & Co. Ambulanz aus Augsburg) nach München beordert, um dort sowohl die Einsatzkräfte, als auch die örtlichen Rettungsdienststrukturen effektiv zu entlasten.
Inzwischen wurden an der deutsch-österreichischen Grenze feste Kontingentübergänge für Flüchtlinge (u. a. Freilassing und Kufstein) eingerichtet. Auch medizinische Versorgung sowie das logistische Management zur Betreuung und Weiterleitung finden inzwischen grenznah statt und werden gemeinsam durch die Hilfsorganisationen, die auch die entsprechende Zugbegleitung der Sonderzüge übernehmen, und private Unternehmen aus dem MHW sichergestellt.
Einen Schwerpunkt der Arbeit der MHW-Mitglieder stellt aktuell neben München die Stadt Rosenheim dar, die dem Kontingentübergang Kufstein zugeordnet ist. Hier werden auf dem Gelände der Bundespolizeikaserne sowie am Bahnhof Flüchtlinge versorgt und gesichtet.
Fazit
Durch diverse Grenzschließungen auf der Balkanroute und der damit verbundenen innereuropäischen Reiseschwierigkeiten für Flüchtlinge bewegen sich die Zahlen der Neuankommenden momentan zwischen wenigen hunderten und bis zu 2.000 Personen (Stand Februar 2016) pro Tag.
Inzwischen stehen in Bayern überregional funktionierende und effektive Strukturen zur Verfügung, um alle Ankommenden zügig zu versorgen und weiterzuleiten. Außerdem ist über die Kapazitäten der privaten Rettungsdienste und Hilfsorganisationen sichergestellt, auch auf einen möglichen wiederholten Anstieg der Flüchtlingszahlen adäquat reagieren zu können.
Crisis Prevention 1/2016
Florian Brummer
Leiter Bundesgeschäftsstelle
Medizinisches Katastrophen-Hilfswerk Deutschland e. V.
Reichenhaller Str. 8, 81547 München
Tel.: 089/620122-603
Mail: brummer@mhw-deutschland.org