Änderungsbedarf an der Reform der Notfallversorgung

Jörg Lüssem

Johanniter/Martin Bühler

Der Rettungsdienst spielt für eine gute medizinische Versorgung im Notfall eine essenzielle Rolle. Als Leistungserbringer im Rettungsdienst begrüßen die Johanniter-Unfall-Hilfe (JUH), dass mit der Reform der Notfallversorgung die Anerkennung des Rettungsdienstes als eigenständiger medizinischer Leistungsbereich im SGB V verbunden ist. Es besteht jedoch Änderungsbedarf am Referentenentwurf. Das betrifft unter anderem die Stellung der Hilfsorganisationen im Bereich der nicht-polizeilichen Gefahrenabwehr und die Finanzierung der medizinischen Notfallrettung mit ihrer Differenzierung in Betriebskosten und Investitions- und Vorhaltekosten und der Ausgestaltung der Pauschalen für rettungsdienstliche Einsätze mit und ohne Transport.

Die Reform der Notfallversorgung ist ein wichtiger Schritt zur verbesserten Verzahnung aller beteiligten Bereiche. Dabei sind alle drei Elemente der Reform der Notfallversorgung mit Veränderungen für die JUH verbunden. Das Gemeinsame Notfallleitsystem soll zu einer effizienteren Disposition beitragen und mit der Zusammenarbeit von Kassenärztlicher Vereinigung und Rettungsdienst eine bedarfsgerechtere Versorgung ermöglichen. Seitens des Rettungsdienstes schwingt hier vor allem die Hoffnung mit, nicht dringende Einsätze, bei denen eigentlich eine Hausarztindikation besteht, durch den KV-Dienst abklären zu lassen und so die wichtigen Ressourcen der Notfallrettung für die lebensbedrohlichen Notfälle vorhalten zu können.

Die Gründung von Integrierten Notfallzentren (INZ) und der damit verbundenen Beschränkung, bei nicht bereits feststehendem stationärem Behandlungsbedarf ausschließlich diese anzufahren, wird in der Praxis zu einer Reduzierung der Anfahrtsmöglichkeiten und letztlich zu verlängerten Fahrzeiten führen. Hier ist zum einen zu bedenken, dass die Rettungsmittel länger als bisher gewohnt in ihrem Einsatzgebiet nicht zur Verfügung stehen und zum anderen, dass eine länger andauernde medizinische Betreuung durch die Notfallsanitäterinnen und Notfallsanitäter notwendig sein wird.

Hauptänderung ist die Anerkennung der medizinischen Notfallrettung als eigener Leistungsbereich im SGB V. Die hier getroffenen Regelungen müssen in den Alltag der Rettungswachen implementiert werden. Die Schaffung eines eigenen Leistungsbereiches ist auch mit Verantwortung verbunden. Während sich für die JUH vor allem administrative Dinge ändern, bewirkt die Anerkennung als eigener Leistungsbereich, dass der Patient ein Anspruch auf Versorgung am Notfallort und nicht mehr nur wie früher auf Transport hat. Obgleich bereits jetzt schon die Versorgung von Notfällen elementarer Bestandteil der Aufgabe im Rettungsdienst ist, wird sie bisher von Gesetzes wegen und von den Kostenträgern nicht als solche anerkannt.

Mit der Maßnahme der Digitalisierung, welche sich durch alle drei neu zu regelnden Bereiche zieht, soll die Versorgung des Patienten optimiert und die Kommunikation zwischen den Akteuren im Bereich der Notfallversorgung vereinfacht werden. Hier gilt es jedoch zu betonen, dass die JUH bereits jetzt viele Rettungsmittel mit digitalen Endgeräten zur Einsatzbearbeitung ausgestattet hat. Die flächendeckende Verwendung wird den Alltag in den Wachen, beginnend bei Alarmierung, aber auch bei der Datenerfassung und -verarbeitung, bis hin zu den einsatzbezogenen Nacharbeiten zum Teil deutlich verändern.

Änderungsbedarf bei der Stellung der ­Hilfsorganisationen bei nicht-polizeilicher Gefahrenabwehr

Die Hilfsorganisationen sind die Säulen der medizinischen, nicht-polizeilichen Gefahrenabwehr. Die Bedeutung der Hilfsorganisationen wird jedoch bei der strikten Trennung von medizinischer Notfallrettung, den Krankentransporten und den Einheiten des Bevölkerungsschutzes verkannt. Die einzelnen Bereiche sind, obgleich sie von unterschiedlichen Kostenträgern finanziert werden, symbiotisch füreinander. Eine strikte Trennung führt dazu, dass die Bereiche losgelöst voneinander agieren und so die Zusammenarbeit im Bereich der erweiterten täglichen Gefahrenabwehr erschwert wird. Vor allem die unterschiedliche Behandlung von medizinischer Notfallrettung und qualifiziertem Krankentransport ist dabei schwer nachvollziehbar. Zum einen hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) bereits letztes Jahr entschieden, dass der qualifizierte Krankentransport unter bestimmten Umständen ebenso wie die Notfallrettung der Gefahrenabwehr zuzurechnen ist, zum anderen wird in Situationen der Rettungsmittelknappheit oftmals auf die Einheiten des qualifizierten Krankentransports zurückgegriffen.

Änderungsbedarf bei der Finanzierung der medizinischen Notfallrettung

Der Referentenentwurf ist in diesen Punkten noch unklar formuliert. Zwar wurde die strikte Trennung von Investitions- und Betriebskosten, wie sie im Diskussionsentwurf enthalten war, im Referentenentwurf nicht wieder aufgenommen, jedoch wurde der Gedanke einer Kostenaufteilung nicht aufgegeben und stattdessen mit einem noch verbesserungsbedürftigen Absatz in die Gesetzesbegründung verlegt. Obgleich die Ausführungen zu Investitions- und Vorhaltekosten, nämlich dass sie als Teil der Gefahrenabwehr zu bewerten und demnach von den Ländern zu tragen wären, nachvollziehbar sind, wird an dieser Stelle der besonderen Bedeutung der notfallmedizinischen Versorgung der Bevölkerung nicht genügend Rechnung getragen. Eine Aufteilung der Kosten auf verschiedene Kostenträger gefährdet die nachhaltige Leistungserbringung und damit die Gesundheit der Bevölkerung. Außerdem ist Notfallversorgung kein Leistungsbereich, der plan- und kalkulierbar erbracht werden kann. Das beste Beispiel ist die aktuelle Corona-Pandemie: Interessanterweise sind das Notrufaufkommen und die Anzahl der Notfalleinsätze während der Corona-Pandemie zurückgegangen. Erst seit den Lockerungen nehmen die Zahlen wieder zu.

Insgesamt sollte zugunsten der Haushalte der Länder und mit Blick auf die einheitliche Finanzierung der Notfallversorgung auf einen Kostenträger abgestellt werden. Inwieweit die Länder sich bei einer Refinanzierung der von den Kassen zu tragenden Kosten beteiligen, kann auf Landesebene ausgestaltet werden. Hier würde ein einfach gehaltenes Vergütungssystem für jeden Leistungsabschnitt, also eine Pauschale für eine Versorgung und eine Pauschale für einen Transport, ggf. noch eine Pauschale für die gekoppelte Erbringung der Leistungen, Sinn machen. In diesen Pauschalen sind alle Kosten der medizinischen Notfallrettung abzubilden.

Beteiligung der Hilfsorganisationen an entscheidungsfindenden Prozessen

Die Rolle der Hilfsorganisationen als Leistungserbringer der medizinischen Notfallrettung muss bei der Beauftragung des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) mitbedacht werden. Der Kreis der Leistungserbringer, nämlich die Vertragsärzte und die Krankenhäuser, sind bisher beim GBA vertreten. Mit der Reform der Notfallversorgung kommt ein neuer Leistungsbereich dazu. Um die medizinische Notfallrettung adäquat durchführen zu können, müssen die Hilfsorganisationen an den Entscheidungen des GBA bzw. wenigstens an dem entscheidungsfindenden Prozess beteiligt werden.

Ferner gilt es, die Rechtssicherheit und die Handlungsmöglichkeiten der Notfallsanitäter zu verbessern. Hier erleben wir bundesweit einen Flickenteppich von umfassend freigegeben Maßnahmen bis hin zu völlig restriktiven Rettungsdienstbereichen, in denen keinerlei Maßnahmen per standardisiertes Vorgehen (SOP) vorgegeben werden. Wenn die medizinische Notfallrettung auch die Versorgung am Notfallort beinhalten soll und der Patient einen Anspruch darauf hat, sollte diese Versorgung nicht davon abhängen, in welchem Landkreis der Patient den Notfall erleidet.

Erweiterung des Angebotes

Die JUH ist schon jetzt vollumfänglich im Bereich der Notfallversorgung engagiert. Dennoch gilt es auch in der Notfallversorgung Stagnation zu verhindern und Innovationen zu fördern. Ein großer Fortschritt in der medizinischen Versorgung, der auch zur Entlastung der Rettungsmittel führt, ist der Einsatz telemedizinischer Dienstleistungen. Die Chancen der Telemedizin werden die Versorgung der Bevölkerung grundlegend verändern. Wir als JUH setzen dabei nicht nur bereits seit Jahren selbst Telemedizin als Element der Versorgung ein, sondern fördern die Verbreitung der Telemedizin in verschiedenen Regionen der Republik.

Konsequenzen für die Notfallversorgung

Pandemien als medizinische Notlagen betonen die Bedeutung der medizinischen Notfallrettung. Nur hoch qualifiziertes Personal mit entsprechender Schutzausrüstung kann Verdachtsfälle und Patienten behandeln. Die aktuelle Pandemie zeigt uns, dass wir bezüglich der in der Vergangenheit problemlos gelebten Versorgungswege Alternativen finden müssen und uns unabhängiger aufstellen sollten. Dies bezieht sich sowohl auf die eigene Bevorratung von schwer ersetzbaren Produkten als auch auf die Unterstützung bei dem Aufbau nationaler und europäischer Produktionsstätten. Auch die Bedeutung von Telemedizin wird in einer Pandemie hervorgehoben. Wenn Menschen sich aus Angst vor einer Infektion scheuen, zum Arzt zu gehen oder den Rettungsdienst zu rufen, dann sollte für diese Menschen ein alternativer Zugang zu medizinischer Beratung, zum Beispiel der Einrichtung niederschwelliger telemedizinischer Rufdienste, in Erwägung gezogen werden.

Eine Krise – so hart und anstrengend deren Bewältigung auch sein mag – ist immer der Beginn einer Veränderung und eine Chance, die gefestigten Wege zu hinterfragen und sich selbst zu verbessern. Die Pandemie wird die Form des Zusammenlebens nachhaltig verändern. Auch für die JUH bringt die Pandemie verschiedene Chancen, sei es die Einführung des kontaktlosen Hausnotrufanschlusses oder die stärkere Auseinandersetzung mit den verschiedenen Varianten digitalen Zusammenarbeitens. Letztlich sind dies aber erst die ersten Schritte, bei denen wir aus der aktuellen Krise lernen können, wie wir unsere Arbeitsabläufe künftig noch effizienter gestalten können.

Verhältnis der Bevölkerung zur Notfallversorgung

Aufgrund der mit dem Führerschein verbundenen Erste-Hilfe-Kurse, der gesetzlichen Verpflichtung zur Stellung von Betriebshelfern und einem breit aufgelegten ehrenamtlichen Engagement, bei dem Erste Hilfe eine wesentliche Rolle spielt, sind die Deutschen durchaus resilienter aufgestellt als andere Nationen. Dennoch ist auch hier eine große Spannbreite zu verzeichnen. Es gibt Menschen, die wegen einer Schnittverletzung am Finger 112 wählen, und es gibt Menschen, die dem Notfallsystem nicht zur Last fallen wollen und mit einem Herzinfarkt zum Hausarzt gehen. Beides sind keine optimalen Versorgungsvoraussetzungen. Mit breit angelegten und niederschwelligen Informationsangeboten kann hier das Verständnis, wer in dem komplexen System der Notfallversorgung für welche Aufgaben zuständig ist und an wen man sich wenden kann, verbessert werden.

Nachholungsbedarf im Bereich der Katastrophenhilfe

Das System der Katastrophenhilfe ist in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten durch Einsparungen und Streichung von Einheiten sehr löchrig geworden. Die aktuelle Pandemie ist ein gutes Beispiel für die unterschiedliche Aufstellung in den einzelnen Ländern und Landkreisen. Es fehlt in Deutschland an einer Einheitlichkeit, mit der man effektiv und effizient Gefahren abwehren kann. Eigentlich zentral zu bearbeitende, strategische Überlegungen werden föderal bearbeitet, sodass eine Vielzahl unterschiedlichster Konzepte entstehen. Obgleich eine militärische Bedrohung, wie sie zu Zeiten des Kalten Krieges herrschte, gegenwärtig nicht gegeben ist, bedarf es einheitlicher Vorsorgemaßnahmen. Die bundesseitige Einführung der Medizinischen Task Force (MTF) ist dafür ein richtiger und wichtiger Schritt. Auch die aktuell laufende Planung der Einheiten des Mobilen Betreuungsmoduls 5000 wird einen wichtigen Schritt zugunsten der Einheitlichkeit beitragen.

Vorbereitung auf zukünftige Herausforderungen

Egal ob Pandemien, Hochwasser oder Stromausfall – die Bandbreite, auf die man vorbereitet sein soll, ist nahezu unüberschaubar. Dennoch muss man, um auf alle Situationen möglichst optimal vorbereitet zu sein, auch die unwahrscheinlichen Szenarien mitdenken.

Für die Hilfsorganisationen bedeutet das, möglichst abstrakt zu denken und auch die Komfortzone einmal zu verlassen. Die Corona-Pandemie zeigt uns, dass plötzlich auch für Ausbildung im Bevölkerungsschutz andere Medien genutzt werden können. Plötzlich werden z. B. Materialien eingesetzt, die mit einem 3D-Drucker hergestellt wurden. Dies sind Szenarien, für die es unter „normalen“ Umständen viel mehr Vorbereitungszeit und Diskussionen bei der Einführung gegeben hätte.

Alternative Ansätze zur Reform der Notfallversorgung

Es geht weniger um das „ob“ als vielmehr um das „wie“. Gerade die Anerkennung der medizinischen Notfallrettung als eigenen Leistungsbereich fordert die JUH schon seit Jahren. Insoweit ist es zufriedenstellend, dass dieser Ansatz in der Reform der Notfallversorgung aufgegriffen wird. Das ganze System der Notfallversorgung läuft am Limit, da sich die Gegebenheiten und auch das Verständnis der Bevölkerung, für was man die Notfallversorgung in Anspruch nehmen könne, verändert haben. Verbesserungspotenzial besteht bei der Ausfüllung des benannten Veränderungsbedarfs. Aber hier arbeiten alle Beteiligten an einer hoffentlich optimalen Lösung. Der Prozess der Reform der Notfallversorgung ist noch lange nicht abgeschlossen.

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