"Alles was sein Maß überschreitet, bringt Verderben"
Dieses Zitat von Paracelsus ist auch für einen MANV anwendbar, denn es verweist auf die Fragestellung, welche Dimension einen MANV als rettungsdienstliche Einsatzlage mit Auswirkung auf weiterversorgende Einrichtungen bearbeitbar ist und wo und in welchem Situationszusammenhang der MANV zu einem katastrophenmedizinischen Einsatz wird. Wie ist ein MANV beschrieben? Welche grundsätzlichen Handlungsweisen begünstigen die schnellstmögliche Sicherung und Wiederherstellung standardisierter medizinischer Individualversorgung? Was sind mögliche Bewältigungsempfehlungen dafür? Dieser Beitrag befasst sich mit der Beantwortung dieser Fragen und bietet Anregungen zur präventiven Bewertung der Handlungsfähigkeiten in eigener Organisationsstruktur und zur Vorbereitung von strategischen und operativen Zielen in der Weiterentwicklung.
Begriffe im Rettungswesen sind mit der DIN 13050 normiert. Darin wird MANV als Notfall mit einer großen Anzahl von Verletzten und/oder Erkrankten sowie Betroffenen beschrieben. Diese Beschreibung muss mit drei weiteren Definitionen in den Zusammenhang gestellt werden, um einen katastrophenmedizinischen Kontext herstellen zu können. Im Rettungswesen ist der MANV mit dem Großschadensereignis mit identischer Definition gleichzusetzen. Hierbei ist der Hinweis „im Rettungswesen“ sicher in der Form zu deuten, dass bei dieser Beschreibung alle anderen Betrachtungen von Ereignisspezifika und deren Auswirkung außer Acht gelassen werden. Der Begriff Katastrophe wird in gleichem Zusammenhang als ein über das Großschadensereignis hinausgehendes Ereignis mit einer wesentlichen Zerstörung oder Schädigung der örtlichen Infrastruktur beschrieben, das im Rahmen der medizinischen Versorgung mit eigenen Mitteln und Einsatzstrukturen des Rettungsdienstes allein nicht bewältigt werden kann. Hier besteht der Hinweis, dass immer aufgrund landesrechtlicher Regelungen der Katastrophenfall festgestellt wird. Katastrophenmedizin letztlich ist nach dieser Norm die medizinische Versorgung in Katastrophen und Großschadensereignissen mit Mangel an personellen und materiellen Ressourcen und nicht nutzbarer Infrastruktur, bei der von der Individualmedizin abgewichen wird.
Diese Definitionen implizieren, dass ein MANV aufgrund seiner Ursache, der gegebenen Rahmenbedingungen und letztlich der Anzahl an PatientInnen und Betroffenen in zwei grundsätzliche Dimensionen unterteilt werden kann.
- MANV-Ereignisse, mit gesicherter medizinischer Individualversorgung
- MANV-Ereignisse mit der Notwendigkeit der katastrophenmedizinischen Versorgung
Wichtigstes Ziel des MANV-Einsatzmanagements aller an der Versorgungskette beteiligter Stellen ist es, die medizinische Individualversorgung weitestgehend abzusichern und bei Abweichungen davon alle Mittel der Katastrophenmedizin auszunutzen, um schnellstmöglich zu ihr zurückzukehren.
Ebenfalls nach DIN 13050 ist der Rettungsdienst (RD) eine öffentliche Aufgabe der Gesundheits- und Daseinsvorsorge und der Abwehr gesundheitlicher Gefahren. Die Umsetzung ist in den jeweiligen Rettungsdienst- oder Hilfeleistungsgesetze der Länder geregelt und weist sie der kommunalen Verwaltung zu. In seiner Zuständigkeit für die Notfallrettung führt der Rettungsdienst die präklinische medizinische Versorgung für PatientInnen durch und ist damit das Bindeglied zwischen der Selbsthilfe von einem Ereignis exponierter Personen im Rahmen der Ersten Hilfe und der klinischen medizinischen Versorgung in weiterversorgenden stationären Einrichtungen.
In allen MANV-Einsatzlagen ist der Rettungsdienst verantwortlich für die Durchführung der medizinischen präklinischen Versorgung von Patienten.
Inwieweit der RD das eigenständig mit einer rettungsdienstlichen Einsatzleitung oder als Einsatzabschnitt unterhalb einer Einsatzleitung durchführt ist ebenfalls landesrechtlich geregelt und aufgrund aufwachsender Einsatzdimensionen und Situationen von den verantwortlich agierenden entsprechend angepasst zu handhaben. In den meisten aller MANV-Einsätze ist die medizinische Versorgung nur ein Teil der gesamtheitlichen Gefahrenabwehr was in der Regel zu einer Einsatzabschnittsbildung unterhalb einer gemeinsamen Einsatzleitung durch die Feuerwehr führt.
Immer dann, wenn die rettungsdienstlichen Ressourcen auch ggf. durch Hinzuziehung von Unterstützungskräften z.B. aus Rettungsdiensterweiterung, überörtlicher Hilfe aus Schnell-Einsatz-Gruppen oder des Katastrophenschutzes ausreichen, um eine medizinische Individualversorgung aller Patienten sicherzustellen, haben Leitender Notarzt (LNA) und Organisatorischer Leiter RD (OrgL-RD) die Möglichkeit standardisierter rettungsdienstlicher Einsatzbearbeitung. Hier ist die Steuerung der Vielzahl notwendiger Einsatzmaßnahmen zeitgleich eine Herausforderung. Durch Umsetzung bestehender MANV-Konzepte und mit operativ-taktischen Maßnahmen der Raum-, Personal- und Zeitordnung werden die beiden wesentlichen Schutzziele eines MANV-Einsatzes erreicht. Diese sind:
- Sicherheit des Einsatzablaufes
- Sicherheit der Einsatzkräfte
Die kontinuierliche Anwendung des Führungsvorganges mit Lagefeststellung, Einsatzplanung und Einsatzdurchführung gemäß DV100 sollte hier als Werkzeug des Einsatzmanagements angewandt werden, um die medizinische präklinische Prozesskette abzusichern und Maßnahmen der Krankenhaus Alarm- und Einsatzplanung (KAEP) im Sinne eines ganzheitlichen Versorgungsstranges bestmöglich zu unterstützen. Eine unbedingte Voraussetzung dafür ist, dass schon einsatzvorbereitend die MANV-Einsatzplanung und die Notfallplanungen (KAEP) der in Frage kommenden Krankenhausstrukturen zueinander abgestimmt wurden und auch gemeinsam beübt wurden, um deren Funktionsfähigkeit sicherzustellen.
Zur Absicherung der hier bestehenden Individualversorgung sollten verfügbare Ressourcen z.B. durch Einrichtung von Patientenablagen gebündelt werden und funktionale Trennungen z.B. für Erstversorgung, Behandlung vor Ort und Patiententransport organisiert werden. Wichtig ist, so früh wie möglich Führung aufzubauen, damit eine strukturierte standardisierte medizinische Versorgung durchgeführt werden kann.
MANV als katastrophenmedizinische Lage mit Abweichung von medizinischer Individualversorgung
In MANV-Einsatzlagen, in denen die verfügbaren personeller, materieller, organisatorischer oder infrastruktureller Ressourcen nicht ausreichen, um eine individualmedizinische Versorgung aller Patienten sicherzustellen, müssen katastrophenmedizinische Verfahren angewendet werden. Dieses ist so lange aufrecht zu halten, bis entweder alle Patienten adäquat versorgt sind oder aber ausreichen Ressourcen herangeführt werden konnten, um Individualversorgung für Alle durchzuführen.
Sichtung (Triage) ist in der Katastrophenmedizin das wichtige Instrument zur medizinischen Lagebewertung und Ablaufsteuerung. Im Rahmen der 8. Sichtungs-Konsensuskonferenz (SKK) in 10.2019 wurden dazu u.a. Begriffe des Sichtungsprozesses konsentiert.
Der Sichtungsprozess ist standardisierter Handlungsablauf zur Feststellung der medizinischen Behandlungsprioritäten bei einem Notfall mit einer großen Anzahl von Patienten sowie Betroffenen (MANV) einhergeht und bei dem eine individualmedizinische Behandlung von Patienten zunächst nicht möglich ist. Die Ergebnisse der Prozessschritte Ersteinschätzung, Vorsichtung und Sichtung tragen zu taktischen Entscheidungen bei.
Ersteinschätzung ist der Ersteindruck der Lage durch eine Einsatzkraft in der Phase des ersten Augenscheins mit der Abschätzung der Anzahl der exponierten Personen und einer Gefahrenanalyse als Grundlage für eine Lagemeldung an eine übergeordnete Stelle.
Die Vorsichtung ist als vorläufige standardisierte medizinische Zustandsbeurteilung beschrieben, die von Ärztinnen und Ärzten oder hierfür geschulten nichtärztlichen Einsatzkräften durchgeführt wird und der eine ärztliche Sichtung folgt. Das Ziel er Vorsichtung ist die schnellstmögliche Identifizierung von vitalbedrohten Patienten. Lagebedingt werden lebensrettende Sofortmaßnahmen (LSM). Es erfolgen eine eindeutige Kennzeichnung und der Start der Transportkette im medizinischen Versorgungsverlauf.
Sichtung ist die ärztliche Beurteilung und Entscheidung über die Priorität der medizinischen Versorgung von Patienten hinsichtlich Art und Umfang der Behandlung sowie Zeitpunkt, Art und Ziel des Transportes. Hierzu gehören eine standardisierte Zuordnung in die jeweiligen Sichtungskategorien, LSM und die Kennzeichnung Toter. Sichtung ist ein dynamischer Prozess und erfordert eine regelmäßige Re-Evaluation. Hierbei werden alle, auch noch nicht vorgesichteten exponierten Personen gesichtet, gekennzeichnet, registriert und dokumentiert.
Derzeit ist eine Vielzahl standardisierter (Vor)Sichtungsalgorithmen für die präklinischen medizinischen Versorgung von MANV-Lagen in Deutschland etabliert. Am wohl meist verbreiteten sind „PRIOR“, „START“, oder in Varianten „mSTART“. Auswertungen von Einsatzlagen und vergleichenden Simulationen haben bisher keinen idealen und universell anwendbaren Algorithmus erkannt, der Über- und Untersichtungen vermeidet, leicht anwendbar ist und alle MANV-Ereignisse abdecken kann. Im Klinischen Umfeld ist der „Manchester-Algorithmus“ am weitesten verbreitet. Zielführend ist, wenn zugunsten einer störungsfreien medizinischen Versorgungskette, die rettungsdienstlichen und klinischen Sichtungsprozesse harmonisiert werden und zweckdienlich die jeweiligen Aufgaben zueinander aufbauend gesteuert werden können.
Für Betroffene, die entsprechend der 8. SKK als diejenigen Personen beschrieben sind, auf die ein Ereignis direkt oder indirekt wirkt und die hierdurch beeinträchtigt sein können, ohne Patienten zu sein, wird der Sichtungsbegriff nicht angewendet. Der standardisierte Handlungsablauf zur Festlegung des Betreuungsbedarfs und zur Priorisierung von Betreuungsleistungen für betroffene Personen wurde mit dem Begriff Betreuungsbedarfserhebung konsentiert, um diesen Ablauf eindeutig vom medizinischen Prozess für Patienten abzugrenzen. In einer Projektarbeitsgruppe der Deutschen Gesellschaft für Katastrophenmedizin wurde mit dem Akronym „BiA“ die „Betreuungsbedarfserhebung und -Leistungssteuerung in der Akutphase von Einsatzlagen“ entwickelt, veröffentlicht und zur Nutzung freigegeben.
Eine weitere wesentliche Rolle im katastrophenmedizinischen Zusammenhang spielen Aufbau und Betrieb von Patientenablagen. Gemäß Konsens der 8.SKK ist eine Patientenablage (PA) eine Stelle außerhalb des Gefahrenbereiches, an der Patienten gesammelt werden und wo die strukturierte medizinische Versorgung beginnt. Insoweit wird hier von der Definition der DIN 13050 abgewichen, die zusätzlich die Aufgaben an der PA konkretisiert, als dort Patient en gesammelt und -soweit möglich- erstversorgt werden und an der sie zum Transport an einen Behandlungsplatz oder weiterführende Versorgungseinrichtungen übergeben werden. Besondere Ereignisse mit besonderer Gefährdung für Einsatzkräfte oder der lagebedingt notwendigen Abweichung von der üblichen medizinischen Versorgungskette erfordern Sonderformen der Patientenablagen. Demnach wurde in der
8. SKK eine Kontaminiertenablage als besondere Form der Patientenablage bei einem CBRN-Einsatz konsentiert. Dort werden kontaminierte Personen vor deren Dekontamination gesammelt und unter den besonderen Bedingungen des Schutzes der Einsatzkräfte und des Schutzes vor Kontaminationsveschleppung durch LSM und „ergänzende LSM“ erstversorgt. In der 7. SKK 2017 wurden konsentiert, dass die ergänzenden LSM eine Antidotgabe und erstmaßnahmen der Dekontamination sind. Diese wiederum beinhalten das Ablegen kontaminierter Bekleidung und die Reduzierung erkennbarer Kontamination durch schnelle Spülung mit Wasser oder durch trockenes Abreiben. Eine geschützte Patientenablage ist eine besondere Form der Patientenablage unter Polizeischutz bei lebensbedrohlichen Einsatzlagen.
MANV als katastrophenmedizinische Lage mit langanhaltender Abweichung von medizinischer Individualversorgung in Flächenlagen mit zerstörter Infrastruktur
Alle bisherigen Ausführungen beziehen sich auf singuläre Ereignisse an einem Einsatzort. Beispiele hierfür sind Verkehrsunfalllagen aller Verkehrsträger, Gebäudeeinstürze, Industrielagen, Brände oder auch von Personen bewusst herbeigeführte Lagen.
Großschadenslagen durch Naturereignisse, Energie-Mangellagen wie Blackout, Ausbrüche von Infektionskrankheiten wie Epidemie oder Pandemie und auch Auswirkungen von Konflikten und Kriegen sind darüber hinaus Situationen, die die gesundheitliche Versorgung vieler Menschen regional bis bundesweit nachhaltig gefährden oder schädigen können. Nicht ohne Grund ist „Gesundheit“ einer der neun Sektoren der Kritischen Infrastrukturen. In solchen Lagen ist es aus katastrophenmedizinischer Sicht nicht nur notwendig die medizinische Akutversorgung sicherzustellen, sondern auch die medizinische Grundversorgung der Bevölkerung im Schadensgebiet abzusichern. Dazu gehören neben den Krankenhäusern und Rettungsdienst z.B. der öffentliche Gesundheitsdienst mit seinen Gesundheitsämtern, alle Pflegeeinrichtungen, niedergelassene ärztliche Versorgung, Apotheken, Labore oder auch Bestatter und Veterinärmedizin.
Im Sinne eines kontinuierlichen Verbesserungsprozesses und der notwendigen Weiterentwicklung der Bewältigung von MAMV-Lagen aller Größenordnungen sollten alle verantwortlichen und beteiligten Organisationseinheiten in ihrem Zuständigkeitsbereich ihr Notfall- und Krisenmanagement umsetzungsfähig gestalten, das Personal zweckdienlich schulen und durch evaluierte Simulationen optimieren. Im Sinne der gesamtheitlichen medizinischen Versorgungskette zur MANV-Bewältigung ist es darüber hinaus unerlässlich, dass alle Notfallplanungen und Einsatzkonzeptionen multiprofessionell und Bereits- wie Ebenen übergreifend aufeinander abgestimmt werden. Alle beteiligten Organisationseinheiten und Strukturen sollten zusätzlich noch besser miteinander vernetzt sein, um notwendige Informationen zu MANV-Lagen schneller und effektiver zu empfangen und auszuwerten. Darüber ist eine solche Vernetzung unerlässlich, um die Prozessketten des medizinischen MANV-Managements zuverlässig zu steuern. Wenn eine solche Vernetzung nicht nur regional, auch überregional, landes- und Bundesweit gelänge, könnten alle gemeinsam den gesundheitlichen Bevölkerungsschutz in Deutschland zukunftsfähiger gestalten als bisher.
Literatur bei Verfasser
Crisis Prevention 3/2022
Jürgen Schreiber
Feldstraße 198
27257 Affinghausen
juergen.schreiber@dgkm.org