Schutzlos ausgeliefert?
Die zivile Verteidigung der Bundesrepublik
Cornelia Juliane Grosse M.A.
Am 27. Februar versetzte der russische Präsident Putin die russischen Abschreckungskräfte in Alarmbereitschaft, darunter die Atomstreitkräfte. Die zivile Verteidigung und der Schutz der Bevölkerung waren im Kalten Krieg zentrale Herausforderungen in Anbetracht atomarer Kriegsszenarien. Aktuell werden viele der alten Konzepte neu diskutiert, die in den letzten Jahren weit in den Hintergrund gerückt sind.
Krieg hat nicht nur eine militärische Dimension. Dies machen die aktuellen Bilder aus dem Kriegsgebiet in der Ukraine mehr als deutlich, die neben den militärischen Operationen vor allem flüchtende und Schutz suchende Zivilisten zeigen.
Spätestens seit Putin seine Atomstreitkräfte in Bereitschaft versetzt hat, hat eine atomare Angst auch die Bundesrepublik Deutschland erfasst.
In der Ukraine herrscht Krieg, der internationale Konflikt verschärft sich täglich und den Einsatz von chemischen oder nuklearen Waffen halten Experten für möglich. Auch ein direkter militärischer Schlagabtausch zwischen Russland und der NATO scheint nicht ausgeschlossen.
Selbst wenn Putin nukleare Waffen »nur« in der Ukraine einsetzen würde, die Auswirkungen wären – je nach ausgeführtem Szenario – auch bis in die Bundesrepublik zu spüren. Das hatte die unbeabsichtigte Explosion eines Reaktors in Tschernobyl bereits 1986 gezeigt. Und bei einem vorsätzlichen direkten (Atomwaffen) oder mittelbaren (Manipulation von Atomkraftwerken) Einsatz von nuklearer Technologie würde sich schnell die Frage stellen, ob ein solcher Akt als direkter Angriff gegen eines oder mehrere NATO-Länder aufgefasst werden müsste, etwa wenn radioaktive Wolken als Folge eines solchen vorsätzlichen Angriffs nach Westeuropa ziehen und dort die Bevölkerung direkt oder indirekt gefährden würden. Dies könnte als Angriff gegen die NATO aufgefasst werden und eine weitere Eskalation nach sich ziehen, die dann auch den direkten Einsatz nuklearer Waffen gegen weitere Länder bedeuten könnte.
Von derartigen Bedrohungsszenarien war die Bundesrepublik zuletzt in Zeiten des Kalten Krieges betroffen. Die Entfremdung der ehemals Alliierten nach Ende des Zweiten Weltkrieges markierte den Beginn des Cold War. Die beiden »Blöcke«, die militärisch durch die NATO und den Warschauer Pakt repräsentiert wurden, bedrohten sich alsbald gegenseitig mit ihren Arsenalen an Massenvernichtungswaffen. Das adaptierte Konzept der Abschreckung und die Massive Vergeltung hatten zur Folge, dass die Bundesrepublik als Land an der Nahtstelle des Konflikts zum potenziellen atomaren Schlachtfeld eines eventuellen Dritten Weltkrieges geworden wäre.
Die Verantwortlichen stellten sich in der Folge die Frage: Wie kann man dieser Bedrohung entgegentreten? Welche konkreten Schutzmaßnahmen kann der Staat ergreifen, um sich und seine Bürger zu schützen?
Zivile Verteidigung – was ist das?
Als Antwort auf diese Fragen entwarf die Bundesregierung bereits in den 1950er Jahren das »Konzept der Zivilen Verteidigung«, als Ergänzung und Gegenstück zur militärischen Verteidigung. Beide zusammen bilden die Gesamtverteidigung der Bundesrepublik ab. Die zivile Verteidigung bezieht sich auf alle vorbereitenden Maßnahmen, die dazu beitragen, schwerwiegende Gefahren für den Staat und seine Bürgerinnen und Bürger abzuwehren oder im Krisenfall besser zu bewältigen. Sie ist ein zentraler Baustein zur Herstellung und Aufrechterhaltung der gesamten Verteidigungsfähigkeit. Die zivile Verteidigung umfasst insgesamt vier Bereiche: die Aufrechterhaltung der Staats- und Regierungsfunktionen, den Zivilschutz, die Sicherung der Notversorgung und die Unterstützung der Streitkräfte. Sie geht somit über den reinen Zivilschutz hinaus und basiert auf dem Prinzip, dass sowohl die staatlichen Institutionen als auch die Bürger einen Beitrag zur Gesamtverteidigung leisten. Eine effektive Verteidigung kann am besten durch eine rechtzeitige Warnung oder Alarmierung gewährleistet werden. Sie sollte der Zivilbevölkerung ermöglichen, sich in Sicherheit zu bringen oder zumindest rudimentäre erste Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Zu diesem Zweck wurde die Bundesrepublik in zehn Warngebiete aufgeteilt. Für jedes Gebiet war ein Warnamt zuständig. Dieser Bereich stellte eine zentrale Schnittstelle zwischen ziviler und militärischer Verteidigung dar. Denn die vom militärischen Flugmelde- und Luftbeobachtungsdienst erstellte Luftlagekarte wurde über eine Verbindungsstelle an die Warnämter weitergeleitet. Dort konnte dann gegebenenfalls die Alarmierung der Bevölkerung ausgelöst werden.
Kein Schutz ohne Warnung
Zu diesem Zweck wurde in der Bundesrepublik zu Zeiten des Kalten Krieges ein umfängliches Warnnetz ausgebaut, das etwa 80 000 Sirenen umfasste. Neben dem Signal für einen regulären Luftalarm wurden im Kalten Krieg neue Signale für eine Gefährdung durch atomare, biologische oder chemische Kampfstoffe eingeführt. Die Wirksamkeit einer Warnung der Bevölkerung war jedoch zwei limitierenden Faktoren unterworfen. Der erste war zeitlicher Natur: Da sich die Bundesrepublik im Kalten Krieg an der Nahtstelle des Konfliktes befand, ging man bereits in den 1950er Jahren von einer Vorwarnzeit von unter 20 Minuten aus. Dieses Zeitfenster verkleinerte sich stetig mit Weiterentwicklungen bei den Waffensystemen. Der zweite Faktor bezog sich auf die Konsequenz der Warnung. Wohin sollten die Menschen sich begeben, wenn sie etwa vor einem Angriff mit atomaren Waffen gewarnt worden waren?
Als Antwort auf diese Frage war der Bau von Schutzräumen vorgesehen. Sie waren wichtiger Teil der westdeutschen Sicherheitsarchitektur. Dass diesbezüglich im Kalten Krieg jedoch mit zweierlei Maß gemessen wurde, bezeugen die entsprechenden staatlichen Maßnahmen.
Sicherheit bauen
Denn eines der größten Bunkerbauprojekte rief die Bundesregierung für sich selbst ins Leben. Zur Aufrechterhaltung der Staats- und Regierungsgewalt sollten die Mitglieder der Bundesregierung und der Landesregierungen in sogenannten Ausweichsitzen unterkommen.
Der Bau des Regierungsbunkers begann 1960 in einem alten Eisenbahntunnel im Ahrtal. Die nutzbaren Bereiche des Bunkers besaßen nach Fertigstellung eine Gesamtlänge von 17,3 Kilometern. Der zweigeschossige Stollen hatte 897 Büro- und Konferenzräume und 936 Unterkunftszimmer. Wäre es zu einem Atomkrieg gekommen, hätte dieser Schutzbau den Bundespräsidenten, die Bundesregierung mit dem Bundeskanzler und ausgewählte Führungskräfte 30 Tage lang vor dem Tod bewahrt; Familienmitglieder ausgeschlossen. Dieser Ernstfall trat zwar nicht ein. Dennoch kam der Regierungsbunker im Rahmen zahlreicher NATO-Übungen zum Einsatz, 1966 etwa, als sich das Bunkertor für die achtzehntägige Stabsrahmenübung »FALLEX« hinter 1200 Menschen schloss.
Auch die Bevölkerung sollte in Schutzbauten Zuflucht finden können. Das »Erste Gesetz über Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung« von 1957 legte einen Schwerpunkt auf die Verwirklichung dieser baulichen Schutzmaßnahmen für den Normalbürger. Die Umsetzung gestaltete sich indes schwierig. 1957 war bereits ein Großteil der durch den Zweiten Weltkrieg zerstörten Städte wieder aufgebaut. Die Einrichtung von Schutzräumen in den vorhandenen Gebäuden oder der Neubau von Bunkern wäre daher mit einem enormen Kostenaufwand verbunden gewesen. Weder Bund noch Länder waren bereit, diese Kosten zu übernehmen.
Ein weiteres Dilemma stellte der Schutzumfang der Bauten dar. Sollte man sich auf ein Angriffsszenario vorbereiten, das den massiven Einsatz von Nuklearwaffen vorsah? Die Kosten für derartige Schutzräume wären unvergleichbar höher ausgefallen. Ein geringerer Schutzumfang konnte andererseits als falsches Signal gegenüber der Bevölkerung aufgefasst werden. Während die Regierung sich einen Bunker mit maximalem Schutzumfang leistete, konnte die Zivilbevölkerung nur hoffen, dass der nukleare Sprengsatz in einiger Entfernung detonierte und ihr noch eine Überlebenschance ließ.
Und so kam es, wie es kommen musste: Bevor eine falsche Entscheidung getroffen wurde, wurde keine getroffen und ein Großteil der im 1. Zivilschutzgesetz beschlossenen Maßnahmen unmittelbar wieder ausgesetzt.
Insgesamt entstanden so im Laufe des Kalten Krieges nur etwa 2300 Zivilschutzanlagen, die etwa 1,4 Millionen Menschen Schutz geboten hätten. Auf den ersten Blick eine hohe Zahl, doch letztlich hätte das nicht einmal für zwei Prozent der damaligen Bevölkerung ausgereicht. Stattdessen hielt die Regierung die westdeutsche Bevölkerung dazu an, auf freiwilliger Basis Schutzräume zu bauen – eine Aufforderung, der erwartbarerweise nur eine Minderheit nachkam.
Angesichts der unzureichenden Schutzbaumaßnahmen stellte sich die Frage, ob die Evakuierung der Bevölkerung eine realistische Alternative darstellte.
Stay at Home?
Die Lage der Bundesrepublik und militärische Erwägungen standen einer Evakuierungsstrategie jedoch entgegen. Die Bundesrepublik wäre in einem heißen Gefecht zum unmittelbaren Kampfschauplatz geworden. Es wurde mit dem massiven Einsatz von Nuklearwaffen im Bundesgebiet gerechnet. Eine Durchführung koordinierter Evakuierungsmaßnahmen war daher kaum realistisch. Dies bestätigte auch die »FALLEX«-Übung von 1966, in deren Verlauf die westlichen Partner die Evakuierungskorridore schlossen und die angedachten Fluchtrouten sich als völlig überlastet herausstellten. Evakuierungen hätten des Weiteren die Operationsfreiheit der NATO-Truppen massiv behindert.
"Flucht bringt keine Rettung."
In der Folge adaptierte die NATO die sogenannte Stay-at-home-Doktrin. Die Bevölkerung sollte zu Hause bleiben und somit auch dazu beitragen, die Operationsfreiheit der Streitkräfte sicherzustellen.
Wie es der damalige Staatssekretär des Bundesinnenministeriums Ritter von Lex formulierte: »Das Zuhausebleiben ist daher im Kriegsfall unbedingtes Gebot jedes pflichtbewussten Bürgers.« Eventuell hoffte die Regierung, auf diese Weise auch den privaten Schutzraumbau anzukurbeln. Denn wer nicht flüchten konnte, wollte wohl zumindest die Möglichkeit haben, sich in seinem Zuhause in Sicherheit zu bringen.
Versorgung oder Vorsorge?
Im Bereich der zivilen Verteidigung stand zudem der heute als »Kritische Infrastruktur« gekennzeichnete Bereich im Fokus staatlicher Maßnahmen. In vielen Aspekten überschnitten sich hier ebenfalls die Interessen der militärischen und zivilen Verteidigung, etwa bei der Energieversorgung, der medizinischen Versorgung, der Sicherstellung von Kommunikationsmitteln und vor allem der Versorgung mit Lebensmitteln und Trinkwasser. Bei Letzterer setzte die Regierung im Besonderen auf die Eigeninitiative der Bürger. Dies sollte im Besonderen dazu dienen, die militärische Verteidigung zu unterstützen. Denn die Bundeswehr verfügte zwar über eine eigene Bevorratung, konnte jedoch im Kriegsfall priorisiert auf zivile Reserven zurückgreifen.
Daher rieten staatliche Stellen den Bürgern, einen eigenen Notfallvorrat an Lebensmitteln für die Grundversorgung anzulegen und auf diese Weise die staatliche Vorsorge zu entlasten. Gemäß der Annahme, dass in Anbetracht der atomaren Katastrophe zwei Wochen Durchhaltefähigkeit gefragt waren, sollte der Notfallvorrat diesen Zeitraum überbrücken helfen. Es gab mehrere öffentliche Kampagnen, welche die Bevölkerung hierzu motivieren sollte. Unter Namen wie »Aktion Eichhörnchen« oder »Der König auf dem Hafersack« wurde genau aufgelistet, was dieser Notvorrat beinhalten sollte und wie die Lebensmittel im Fall des Falls zu rationieren seien.
Auf große Resonanz stießen aber auch diese Maßnahmen in der Bevölkerung nicht. Sie gewöhnte sich wohl allmählich an den andauernden Bedrohungszustand. Die sich folglich latent einstellende Apathie hätte wohl nur durch eine staatliche Vorsorgepflicht durchbrochen werden können.
Bereits seit der Entspannungspolitik der 1970er Jahre trat die Notwendigkeit von zivilen Verteidigungsmaßnahmen zunehmend in den Hintergrund. Von Vorsorge für den Kriegsfall wollte ohnehin kaum jemand mehr sprechen. Wenn überhaupt, dann wurde nun auf Katastrophenfälle natürlichen oder wenigstens nicht kriegerischen Ursprungs vorbereitet, also etwa Erdbeben, Überschwemmungen oder andere Großschadensereignisse.
Zivile Verteidigung – wozu?
Nach 1990 und dem vermeintlichen Ende des Kalten Krieges schienen endgültig alle kriegerischen Bedrohungsszenarien überholt. Das änderte sich auch mit den Terroranschlägen von 2001 nicht. 2007 entschied der Bund, vollständig auf Schutzräume als Teil der zivilen Verteidigung zu verzichten. Der Regierungsbunker bei Bonn war bereits 1997 geschlossen und bis 2008 in ein Museum umgewandelt worden.
Mittlerweile hat sich die Einschätzung geändert. Das Weißbuch stellte bereits 2016 eine veränderte sicherheitspolitische Lage fest. Militärische Angriffe seien »grundsätzlich möglich«.
Diese Bewertung hat sich durch den unrechtmäßigen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine bestätigt. Die Bilder von sich in Kellern und U-Bahnschächten in Sicherheit bringenden Menschen in der Ukraine lassen in Deutschland Zweifel am fast vollständigen Zurückfahren der Zivilschutzmaßnahmen aufkommen. Das Geheul der Sirenen, das die Bürger Kiews vor einem bevorstehenden Luftangriff warnt, macht nun die Mängel der deutschen zivilen Verteidigungsmaßnahmen deutlich: Denn eine derartige flächendeckende Warnung wäre derzeit hierzulande nicht möglich. Die zu Zeiten des Kalten Krieges allgegenwärtigen Sirenen sind in Deutschland weitgehend abgebaut. Der Bund selbst besitzt noch eine einzige Sirene. Sie dient im Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe in Bonn als Ausstellungsstück.
Die Corona-Pandemie oder die Hochwasserkatastrophe im Ahrtal sowie der fehlgeschlagene »Warntag« 2020 verstärken den Eindruck einer derzeit zivil »bedingt abwehrbereiten« Bundesrepublik. Wie erst wäre die Lage im Fall eines realen kriegerischen Szenarios?
Mit dem russischen Angriff stellen sich diese Fragen dringender denn je. Und eines ist klar, wenn die Rede davon ist, dass »jeder Zoll NATO-Territorium verteidigt wird«, dann sollte sich dies nicht nur auf die rein militärische, sondern gleichermaßen die zivile Verteidigung erstrecken. Denn die militärische Landesverteidigung ergibt nur Sinn, wenn das Land und die darin lebende Bevölkerung geschützt werden. Andernfalls wird sie ad absurdum geführt.
Nachdem die Bundeswehr als Auswirkung des Ukraine-Krieges mit einem Sondervermögen von 100 Milliarden Euro ausgestattet werden soll, deutet sich nun in der zivilen Verteidigung ein Umdenken an. »Auch im Zivilschutz müssen wir uns den aktuellen Herausforderungen stellen und unsere Fähigkeiten stärken«, hieß es aus dem für die zivile Verteidigung zuständigen Bundesinnenministerium. Der derzeitige Präsident des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe Armin Schuster machte hierzu eine klare Angabe: Fünf bis zehn Milliarden Euro in zehn Jahren könnten die zivile Verteidigung in Deutschland wieder handlungsfähig machen. Dabei sollte vor allem eines berücksichtigt werden: Genau wie die militärische Landesverteidigung nur als Bündnisverteidigung geplant werden kann, muss auch die zivile Verteidigung transnational gedacht werden, etwa bei der Versorgung, Warnung und Evakuierung der Menschen – auch dies hat der Krieg in der Ukraine allzu deutlich gemacht.
Literaturtipps
Martin Diebel, Atomkrieg und andere Katastrophen. Zivil- und Katastrophenschutz in der Bundesrepublik und Großbritannien nach 1945, Paderborn 2017.
Luft- und Zivilschutz in Deutschland im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Bernd Lemke, Potsdam 2007.
Kontakt:
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Telefon +49 331 9714-400
E-Mail: ZMSBwPressestelle@bundeswehr.org