18.05.2022 •

Triage – eine katastrophenmedizinische Herausforderung wird zum politischen Zahnrad der Pandemie

Andreas Follmann

Projekt AUDIME

Für Katastrophenmediziner ist die Triage eine der größten Herausforderungen, zugleich aber auch eine wichtige Aufgabe bei der Bewältigung einer besonderen Einsatzlage. Durch eine Vielzahl an Verletzten oder Betroffenen ist die Verteilung einer knappen Ressource – egal welcher Art – von wichtiger Bedeutung. Nur durch die Sortierung (französisch triage) von Personen mit einer besonderen Erkrankungs- oder Verletzungsschwere ist es möglich, beispielsweise knappe personelle oder materielle Ressourcen bedarfsgerecht zu verteilen, um so schnell wie möglich wieder zu einer individualmedizinischen Versorgung zurückzukehren.

Sichtungskategorien nach der 6. Sichtungs-Konsensus-Konferenz 2015, bestätigt...
Sichtungskategorien nach der 6. Sichtungs-Konsensus-Konferenz 2015,
bestätigt 2017

Triage und Sichtung

Der Begriff der Triage im Zusammenhang mit der Einteilung von Verletzten bzw. Verwundeten ist alt und stammt aus der Militärmedizin. Sie dient der Auswahl der lebensbedrohlich Verletzten, die sofortige medizinische Hilfe zum Überleben benötigen. Im deutschsprachigen Raum hat sich der Begriff der „Sichtung“ etabliert, der gemeinsam mit den verschiedenen Sichtungskategorien (SK; Tabelle 1) auf den Sichtungs-Konsensus-Konferenzen zwischen diversen Fachverbänden und dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) bundesweit festgeschrieben wurde. Trotzdem wurde immer noch kein bundesweit einheitliches Vorgehen bei einem Massenanfall von Verletzten (MANV) umgesetzt, denn den Ablauf einer Sichtung bestimmt jeder Landkreis selbst.

Dabei ist die Sichtung eine große Herausforderung, gerade für Einsatzkräfte des ehrenamtlichen Katastrophenschutzes. Sie ist ein mehrschichtiger Prozess: Nach einer Ersteinschätzung, häufig verbunden mit einer Rückmeldung an die entsendende Leitstelle, folgt durch das ersteintreffende Rettungsmittel eine Vorsichtung. Diese kann auch durch nicht-ärztliches Personal durchgeführt werden. Es bleibt nur Zeit für lebensrettende Sofortmaßnahmen, anschließend muss man zum nächsten Betroffenen, um sich zügig einen Überblick zu verschaffen. Das treibt den Menschen an seine physische aber auch psychische Grenze. Man muss Schwerverletzte ggf. sogar Sterbende zurücklassen und kann nicht zur notwendigen Versorgung übergehen, wie man sie für individualmedizinischen Notfallbehandlung erlernt hat. Posttraumatische Belastungs­störungen und Schuldvorwürfe können die Folge sein.

Um die Entscheidungen bei der Einteilung der Betroffenen in eine der Sichtungskategorien (im Rahmen der Vorsichtung oder der ärztlichen Sichtung) zu erleichtern, wurden mehrere Algorithmen entwickelt. Ein Vorsichtungs-Algorithmus, der in Deutschland häufig zum Einsatz kommt, ist der PRIOR (Primäres Ranking zur Initialen Orientierung im Rettungsdienst). Von einer Arbeitsgruppe aus Vertretern der Deutschen Gesellschaft für Katastrophenmedizin e.V. (DGKM) und dem BBK entwickelt, folgt er dem ABCDE-Schema der Notfallmedizin und identifiziert verschiedene Faktoren, die für die Schwere einer Verletzung oder Erkrankung sprechen können. Andere Sichtungsalgorithmen schließen quantitative Merkmale wie Puls- oder Atemfrequenz ein. Doch auch bezüglich der verschiedenen Sichtungsalgorithmen gibt es in Deutschland keine einheitliche Vorgehensweise, selbst innerhalb der Bundesländer kommen teils verschiedene Algorithmen zum Einsatz oder werden gar nicht regelhaft angewendet. Alle entwickelten Algorithmen weisen Vor- aber auch Nachteile auf. So ist PRIOR aufgrund der vielen Einschlussmöglichkeiten zwar hoch sensitiv für die Zuordnung in die SK I (rot), kategorisiert jedoch im Vergleich vermehrt falsch-positive Entscheidungen (Übertriage).

Nach der Vorsichtung folgt entweder noch vor Ort oder im Krankenhaus Schritt drei des Sichtungsprozesses: „Ziel der ärztlichen Sichtung ist es, bisher noch nicht gesichtete Patienten zu evaluieren oder die Vorsichtungsergebnisse zu reevaluieren.“ Hierzu ist nach der Behandlungspriorität auch die Transportpriorität ein wichtiges Ergebnis der durchgeführten Sichtung. Die Ergebnisse sind entsprechend zu dokumentieren, hierfür stehen – ebenfalls nicht bundesweit einheitliche – Patientenanhängekarten zur Verfügung. Diese enthalten eine einmalige Identifikationsnummer, eine farbige Markierung entsprechend der Sichtungskategorie sowie ein Feld zur Eintragung von Personendaten und medizinischen Vitalzeichen. Zur schnellen, technisch unterstützen Erfassung der Identifikationsnummer steht häufig noch ein Barcode zur Verfügung, der mit Aufklebern auf weitere Dokumente übertragen werden kann.

Auch wenn es zu berücksichtigen gilt, dass gerade in der Kata­strophenmedizin bei Ausfall der Infrastruktur eine analoge Sichtung und Sichtungsdokumentation jederzeit möglich sein muss, so arbeitet die Katastrophenmedizin in der „technologischen Steinzeit“. Lange hat man sich aufgrund möglicher Ausfallszenarien dagegen gewehrt, moderne Technologien oder gar eine Internet­anbindung zur Einsatzunterstützung zu nutzen.

So gibt es zwar erste Apps für das Smartphone, die Sichtungsalgorithmen abbilden, eine holistische digitale Einsatzbegleitung ist aber noch Gegenstand der Forschung. So werden Forderungen nach einem QR-Code zur einfacheren Erfassung auf den Patientenanhängekarten lauter. Erste Produkte zur digitalen Sichtungsdokumentation scheitern teils an den hohen Vorhaltungskosten. Auch die Einbindung der Telemedizin wird in Fachkreisen diskutiert.

Triage – Telemedizin als Zukunftskonzept?

„Bei Katastrophen mit fehlender Infrastruktur und einer teils unübersehbaren Vielzahl von Verletzten oder Erkrankten besteht ein Missverhältnis von objektiven Therapie-Notwendigkeiten und realen Therapie-Möglichkeiten.“ Dieses Problem ist auch in der Notfallmedizin bekannt, wo die personelle Ressource „Notarzt“ knapp geworden ist. Hier könnte der Telenotarzt dazu beitragen, den Ressourceneinsatz zu optimieren und eine ärztliche Kompetenz auch über eine räumliche Distanz verfügbar zu machen. Da kommt natürlich auch die Frage auf, ob nicht die Telemedizin auch im Katastrophenfall, der ja der Inbegriff eines ärztlichen Ressourcenmangels zu sein scheint, hilfreich wäre.

Neben Konzepten, die die Integration der helfereigenen Smartphones integrieren – wie beispielsweise in einer aktuellen Machbarkeitsstudie im Auftrag des BBK zur Nutzung von Telemedizin im Zivilverteidigungsfall – kommen auch moderne Devices wie Datenbrillen zum Einsatz. Erste Ergebnisse zur telemedizinisch begleiteten Sichtung sind vielversprechend. Zwar dauert eine technisch unterstütze Sichtung länger, die Sichtungsqualität konnte jedoch in ersten Studien signifikant gesteigert werden. Zur telemedizinisch unterstützten Sichtung ist zumindest ein lokales Netzwerk (bei Einsatz eines telemedizinisch angebundenen ­Arztes vor Ort) oder die Anbindung an das Internet erforderlich, aber wir sollten uns vor der Evaluation der Potentiale solcher Technologien nicht verschließen. Schließlich gibt es ausreichende Beispiele für den möglichen Einsatz einer technisch unterstützen Sichtung, bei denen eine digitale Datenübertragung beispielsweise über Mobilfunk nicht gestört gewesen wäre. Dennoch sind natürlich der Datenschutz sowie mögliche Exit-Strategien bei solchen Überlegungen zu berücksichtigen.

Andere Forschungsansätze gehen noch weiter und eruieren die Möglichkeit, Sensoren zur Erfassung von Vitaldaten auch von unbemannten Flugsystemen aus zu nutzen. Diese Ergebnisse könnten dann wiederum Sichtungsalgorithmen durchlaufen, ein teilautomatisierter Sichtungsvorschlag wäre dann verfügbar und könnte einsatztaktisch einen frühen Überblick über die Gesamtzahl der Betroffenen und die jeweilige Verletzungsschwere bieten. Sicherlich sind solche Forschungsprojekte noch ganz am Anfang und bis zum Regelbetrieb werden noch Jahre vergehen, die Potentiale unbemannter Flugsysteme könnten aber die schwierige Aufgabe der Sichtung zukünftig vereinfachen.

Vorsichtungs-Algorithmus PRIOR (Primäres Ranking zur Initialen Orientierung im...
Vorsichtungs-Algorithmus PRIOR (Primäres Ranking zur Initialen
Orientierung im Rettungsdienst) in der aktuellen Fassung
Quelle: BBK

Triage – plötzlich in aller Munde?

So tragisch die jüngsten Ereignisse von katastrophalem Ausmaß – von der Flutkatastrophe bis zur anhaltenden Pandemie – auch sind, die Katastrophenmedizin rückt in den Blickwinkel von Politik und Öffentlichkeit. Kaum jemand hätte zuvor etwas mit dem Begriff der Triage anfangen können, wenige waren sich der bestehenden Konzepte bewusst, die sich in der Katastrophenmedizin etabliert hatten. Und plötzlich drohen medizinische Ressourcen knapp zu werden und der Begriff scheint in aller Munde.

Schon früh hatte sich die DGKM unter dem damaligen Präsidenten Prof. Leo Latasch zu Wort gemeldet und „Medizinische und ethische Aspekte bei der Verteilung knapper Ressourcen und der Triage-Situation“ als Orientierungshilfe aus katastrophenmedizinischer Sicht veröffentlich. Hierin wird klar postuliert, dass bei einer klinischen Entscheidungsfindung die klinisch-ethischen Aspekte der deutschen Fachgesellschaften als Leitfaden zu verwenden sind, die unter der Federführung der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin e.V. (DIVI) veröffentlicht wurden. In der Empfehlung „Entscheidungen über die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen im Kontext der COVID-19-Pandemie“ vom 14.12.2021 findet die Triage jedoch kein einziges Mal Erwähnung. Vielmehr ist die Rede von „Priorisierungsentscheidungen bei Ressourcenknappheit“. Und dieser Wortwahl folgt auch die jüngste Stellungnahme der DGKM vom 3.12.2021 zur Einordnung der aktuellen Diskussion über Impfpflicht und Triage.

Die Pandemie hat in ganz Deutschland signifikante Auswirkungen auf die medizinische Regelversorgung mit regionalen Unterschieden, bis hin zum Erreichen der Katastrophenschwelle in einigen Bundesländern. Das Feststellen eines Katastrophenfalls bedeutet nicht automatisch, dass Instrumente aus der Katstrophenmedizin wie die Triage eingesetzt werden müssen. Diese Triage identifiziert lebensbedrohlich Erkrankte oder Verletzte. Bei der aktuellen Diskussion um knappe Behandlungsressourcen handelt es sich jedoch um eine Priorisierung von Maßnahmen, die für Patienten erforderlich sind, die sich alle in einem lebensbedrohlichen Zustand befinden.

Das deutsche Gesundheitssystem kann insgesamt eine Ressourcenknappheit auffangen, dennoch drohen Ressourcen regional zu erschöpfen oder sind erschöpft. In diesen Situationen kann eine Priorisierung von Maßnahmen zeitweise unausweichlich werden. Die unreflektierte Nutzung des Begriffs der Triage im Kontext der Pandemie ist jedoch nicht zielführend. Die sachliche Beurteilung bei Priorisierung zeitgleich zu versorgender Patienten entspricht medizinischen Standards und dem prognostizierten Therapieerfolg, ist fallbezogen und komplett unabhängig von patienteneigenen Kriterien wie Alter, Geschlecht, Glaubenszugehörigkeit, Impfstatus oder Impfwilligkeit. Dieser Sachverhalt gilt auch in der medizinischen Versorgung während der Pandemie und wird in der Katastrophenmedizin gelebt. 


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