Die Lage in Deutschland bezüglich der Verbreitung des Coronavirus ist bisher achtsam-angespannt, aber noch ruhig. Nachdem die Infektionspfade der ersten infizierten Patienten in Deutschland noch ihren Ursprung in der Hochrisikoregion China hatten, treten in den letzten Tagen zunehmend mehr Infektionen auf. Basierend auf den aktuellen Zahlen ist es nicht ausgeschlossen, dass die Pandemie auf Deutschland übergreift.
In der Kommunikation nach außen stellt sich die (Gesundheits-)Politik als vorbereitet dar, während sich die reale Lage im Gesundheitswesen bereits im Regelbetrieb als angespannt erweist. Kostendruck, Personalmangel, Arbeitsbedingungen und der Umgang mit resistenten Keimen lassen vermuten, dass das Gesundheitssystem den Anforderungen an eine Pandemie nicht gewachsen ist.
Der Rettungsdienst kämpft mit strukturellen Problemen, so ist der Markt für Rettungsassistenten und Notfallsanitäter leergefegt. Ausschreibungen über die Vergabe von rettungsdienstlichen Leistungen haben den Markt verändert und zu Kostensenkungen geführt. Die Kostenübernahme der Notfallsanitäterausbildung war regional unterschiedlich und hat dazu geführt, dass teils örtlich ein starkes Unterangebot an fertig ausgebildeten Notfallsanitätern besteht. Zusätzlich hat das Kompetenzwirrwarr um die erweiterten Maßnahmen der Notfallsanitäter zu Frustration geführt. Notarzteinsatzfahrzeuge können teils aus Mangel an Notärzten nicht besetzt werden.
Unter Bundesgesundheitsminister Seehofer wurde die Anzahl an Medizinstudienplätzen reduziert. Dies führt u. a. dazu, dass heutzutage die hausärztliche Versorgung ausgedünnt ist, so finden immer weniger Hausärzte passende Nachfolge. Krankenhäuser sind zwar in 15 Bundesländern verpflichtet einen Krankenhausalarm- und Einsatzplan zu erstellen, Inhalte und Schutzziele sind allerdings nicht in jedem Bundesland detailliert auszuarbeiten. Die Qualität der Krankenhausalarmpläne schwankt stark und ist häufig auf den Massenanfall von Verletzten ausgerichtet. Der Ausfall von kritischer Krankenhausinfrastruktur wie der Haustechnik, IT oder Wäschedienst, die eigene Betroffenheit und Mitarbeiterausfall bei Pandemielagen sowie der Massenanfall von Infizierten werden dort oft als Randthemen betrachtet. Häufig stehen einer optimalen Versorgung von Infektionspatienten auch historisch gewachsene Räumlichkeiten im Wege.
Während einer Pandemie werden sowohl die präklinischen als auch die klinischen Ressourcen stark gefordert. So ist zwar zu erwarten, dass ähnlich wie das Einsatzaufkommen an Feiertagen, Arbeitsunfälle oder Verkehrsunfälle reduziert sind. Elektive Eingriffe können abgesagt werden. Gleichzeitig wird das Gesundheitssystem von einer im wochenverlauf exponentiell steigenden Anzahl an (möglicherweise!) infizierten Patienten belastet.
Dies wird den Ruf nach Unterstützung durch den ehrenamtlichen Bevölkerungsschutz laut werden lassen. Doch was wären mögliche Einsatzszenarien und der einsatztaktische Wert von medizinischen Einheiten?
Zunächst einmal ist dies nicht pauschal zu sagen, denn Katastrophenschutz ist Ländersache. Der Bund ist für den Zivilschutz zuständig und hat 2007 damit begonnen, Medical Task Forces (MTF) zu konzipieren und aufzustellen. Eine entsprechende Betreuung-Task-Force oder gar Pflege-Task-Force sind nicht in Planung. Teilweise existieren in den DRK Verbänden noch Teile des DRK-Hilfszugs, häufig Landesvorhaltung o. ä. genannt. Eine explizite Aufstellung von taktischen Einheiten mit dem Fokus auf Infektionstransport, Krankenhausunterstützung oder Pflege existiert nicht flächendeckend, sondern häufig nur in lokalen oder organisationsinternen Konzepten.
Im Weiteren soll nur die Einsatzeinheit NRW betrachtet werden, da für diese einige Daten vorliegen. Die Datengrundlage wurde vom Autor im Rahmen der Masterarbeit "Analyse Leistungsbegrenzender Faktoren im Einsatz medizinischer Einheiten im Bevölkerungsschutz" erhoben. In dieser wurden Einsätze und Übungen von Einsatzeinheiten ausgewertet sowie eine Onlinebefragung von knapp 500 Teilnehmern durchgeführt. Darin wurde der taktische Einsatzwert, aufgeschlüsselt, auf den technischen, personellen, organisatorischen und zeitlichen Einsatzwert erhoben. Die Methodik wurde gewählt, um Schwachstellen zu erkennen und Verbesserungsmaßnahmen identifizieren zu können. Anschließend wurden die Teilnehmer zu Einsatzszenarien befragt. Die Teilnehmer sollten angeben, für welche Szenarien sie die Einsatzeinheit als nicht geeignet sehen:
In dieser Auswertung stellt sich der Einsatz bei Pandemielagen als technisch und personell nicht geeignet dar. Die Rettungsmittel[1] der Einsatzeinheiten verfügen nach Standard-Beladeliste über 2 Tragelaken und Händedesinfektionsmittel. Der Gerätewagen Sanitätsdienst NRW verfügt über 1 Paket Handschuhe in den Größen S, M und L sowie über eine Handdesinfektionsmöglichkeit. Infektionsschutzsets, Flächendesinfektionsmittel oder Wischtücher sind nicht vorhanden. Das Land NRW stattet im Gegensatz zum Bund[2] seine Einheiten nicht mit CBRN-Schutzausrüstung aus. Insofern sind in Einsatzeinheiten NRW in der Standardbeladung keine Ausrüstungsgegenstände vorhanden, um einen Massenanfall von Infizierten wie ein Einsatzszenario "Norovirus im Seniorenheim" oder ein Pandemieszenario adäquat abzuarbeiten.
Nachdem die wenige Standardbeladung verbraucht ist, müssen Verbrauchsmittel wie Ohrhülsen für Ohrthermometer, Handschuhe, Desinfektionsmittel und Infektionsschutzmaterial nachgefüllt werden. Vorgaben und Erfahrungswerte der Durchhaltefähigkeit von Einsatzeinheiten sind für Infektionslagen nicht vorhanden. Eine Verbrauchs- und Nachschubanalyse von entsprechendem Hygienematerial ist nicht vorhanden. Das Vorhalten von Nachschub von Verbrauchsmaterialien dezentral in den Standorten ist nur in Eigeninitiative vorhanden, da Sanitätsmittelbevorratung nicht in der Bewirtschaftung von Einsatzeinheiten vorgesehen ist. Hier wird gerne auf die Lagerhaltung des Trägers des Rettungsdienstes zurückgegriffen.
Das Land NRW gibt weder im Landeskonzept überörtliche Hilfe Sanitätsdienst und Betreuungsdienst noch in den Bewirtschaftungsrichtlinien Vorgaben noch Mittel für die Vorhaltung von Desinfektionshallen und -intervallen von Einsatzeinheiten. Die Unterbringung der Fahrzeuge in Hallen oder Garagen wird mittels Pauschalmiete finanziert. Jegliche darüberhinausgehenden Anforderungen müssen durch die verwaltende Stelle in Eigeninitiative bzw. auf Grundlage der DGUV Vorschriften erfüllt werden, was zu einem lokal heterogenen Umsetzungsgrad führt.
Auch wird der technische Einsatzwert bei einem Einsatz zur Krankenhausunterstützung als bedingt geeignet gesehen. Möglichkeiten sind hier die Unterstützung im internen KH-Transport, in der Sichtung z.B. zum ambulanten Abstrich-Erheben sowie Fiebermessung vor Krankenhäusern sowie bei der Patientenbehandlung.
In der Helfergrundausbildung nach der BMI Feinkonzeption (BMI-Feinkonzeption vom 20.03.1998) nimmt das Thema Hygiene einen Stundenumfang von 1 Zeitstunde ein. In aufbauenden Sanitätslehrgängen wird das Thema "Infektionskrankheiten/Hygiene" mit 2 Zeitstunden angegeben. Einen ähnlichen Umfang hat die Sanitätshelferausbildung in den Hilfsorganisationen. In der rettungsdienstlichen Ausbildung nimmt dieses Thema etwa 5 Zeitstunden ein. Pflegerische Grundtätigkeiten werden nur in den rettungsdienstlichen Praktika vermittelt. Insofern ist die Selbsteinschätzung der Teilnehmer der Online Umfrage als valide und faktenbasiert anzunehmen.
In der folgenden Grafik werden die Daten aus den taktischen Einsatzwerten vermischt mit realen Einsatzdaten[3] und der Risikoanalyse[4] des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Für Pandemien lagen keine Einsatzdaten vor, daher wurde die Eintrittswahrscheinlichkeit aus der Risikoanalyse des BBK übernommen. Neu an der untenstehenden Grafik ist die Darstellung des Risikos kombiniert mit den realen Fähigkeiten zur Einsatzbewältigung. Die Fähigkeiten wurden mittels farblicher Emojii dargestellt. Es wurde der taktische Einsatzwert bei subjektiver Nicht-Eignung mit einem roten Symbol dargestellt, grün dargestellt für volle Eignung und gelb in allen sonstigen Fällen.
Der Einsatzwert bei Pandemien ist nur sehr bedingt gegeben, da Ausrüstung und Ausbildung strukturell fehlen. Die Standard-Beladung und Standard-Ausrüstung sind nicht für Pandemien ausgelegt.
Die Konsequenz aus der Risikoanalyse ist, dass Szenarien, die ein hohes Schadensausmass und eine hohe Eintrittswahrscheinlichkeit aufweisen, priorisiert betrachtet und auf Verbesserungen untersucht werden müssen. Im konkreten Fall sind dies der Massenanfall von Verletzten, Terror/Anschläge, Stromausfall, Erdbeben und vor allem Pandemie. Diese sind nicht nur mit einem Risiko behaftet, sondern für diese Szenarien sind medizinische Einheiten, laut den Teilnehmern der Umfrage, nicht voll geeignet. Diesem hohen Risiko stehen also nur bedingt oder nicht taugliche Maßnahmen zur Gefahrenabwehr entgegen.
Wir sind als Bevölkerungsschutz auf ein sehr hohes Risiko, welches uns in den nächsten Tagen und Wochen betreffen wird, nicht adäquat vorbereitet. Vermutlich werden Einsatzeinheiten für Aufgaben anderer Zuständigkeiten des Gesundheitswesens wie der Unterstützung der häuslichen Quarantäne, Durchführen von häuslichen Abstrichtests, Fiebermessen vor Krankenhäusern und Betroffenentransport zweckentfremdet, da die originären Aufgabenträger überlastet sind.
Möglichkeiten zur Notfallvorsorge im Sinne von Ausrüstung und Ausbildung sind nur noch beschränkt möglich. Es wird nur noch das bestmögliche Reagieren und das berüchtigte "Leben in der Lage" bleiben.
Handlungsempfehlung für NRW:
"Die Hygieneausrüstung der Gruppe Sanität sollte kurzfristig um Infektionsschutzanzüge, Masken entsprechender Schutzklasse und Handschuhe in entsprechender Menge ergänzt werden."[5]
Rettungsmittel Einsatzeinheit
- 10 I-Schutz Kits pro Fahrzeug
- 1x kontaktlos messendes Fieberthermometer
- Anschaffung von 2 Gebläsefilteranzügen sollte geprüft werden, um das Screening von größeren Personenmengen zu ermöglichen
Gerätewagen Sanitätsdienst
- Mindestens 1 kontaktlos messendes Fieberthermometer
- Das Hygienemodul wird zugunsten Pumpspendern abgelöst, auch weil die Verpackungsgrößen von Desinfektion- und Seifenspendern nicht mehr in die Halterung passen und daher umgefüllt werden müssen. Die Pumpmechanismen sind ggf mit Resten vorheriger Benutzung kontaminiert. In Zukunft sollte ein Hygieneboard die Möglichkeit bieten, fertige Pumpspender aufzunehmen.
- Weiterhin sollte ein Wischtuch-Desinfektionsspender mitgeführt werden, z.B. im Freiraum hinter der Anlegeleiter
- Pro Notfallrucksack
- FFP3 Maske 2
- Mund Nase Schutz 5
- Augenbrille 2
- Die Kiste mit Schlüsselnummer SA1 wird mit folgender Beladung ausgerüstet:
- Handbürste 5
- Trageschutzlaken 1 VE
- Papiertücher 1 VE
- Einmalhandschuhe S 2 VE
- Einmalhandschuhe M 2 VE
- Einmalhandschuhe L 2 VE
- Einmalhandschuhe XL 2 VE
- Handdesinfektionsmittel 2 x 500 ml
- Waschlotion 2 x 500 ml
- Weiterhin sollte eine Ergänzungskiste Infektionsschutz beschafft und mit folgenden Inhalten ausgestattet werde
- Schutzbrille 6 St
- Flächendesinfektionsmittel 3 x 500 ml
- Mundschutz 5 VE
- FFP3 Masken 1 VE a 20 St.
- Abwurfbehälter 1
- Müllsäcke 1Rolle
- Hautdesinfektionsmittel 3 x 500 ml
- Handdesinfektionsmittel 5 x 500 ml
- Waschlotion 2 x 500 ml
[1] Anmerkung: Häufig werden auf den Rettungsmitteln in Eigeninitiative und idR auf Kosten des Rettungsdienstträgers oder auf eigene Kosten eine geringe Anzahl an Infektionsschutzsets vorgehalten, u.a. um konform mit Checklisten des Rettungsdienstträgers zu handeln.
[2] In der Einsatzeinheit mit Sollstärke 33 Einsatzkräfte des Autors sind 12 ABC-Schutzsätze für die Doppelbesetzung eines Btkombis vorhanden
[3] Es wurden 2118 Einsätze von 104 Einsatzeinheiten aus 8 Kalenderjahren betrachtet, detaillierte Ergebnisse siehe Masterarbeit „Analyse Leistungsbegrenzende Faktoren im Einsatz medizinischer Einheiten im Bevölkerungsschutz“, Kapitel 7.5
[4] Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz Ein Stresstest für die Allgemeine Gefahrenabwehr und den Katastrophenschutz, BBK 2015
[5] Kapitel 8.1 kurzfristige Handlungsempfehlungen, Masterarbeit „Analyse leistungsbegrenzender Faktoren im Einsatz medizinischer Einheiten im Bevölkerungsschutz“, 2018
Jens von den Berken, M. Sc.