Gesellschaftliche Veränderungen
Gesellschaftliche Veränderungen
Quelle: Max & Schulze 2022 / Illustration: Christian Lindemann
19.12.2022 •

Hilfeleistungssysteme der Zukunft

Die Aufrechterhaltung von Alltagssystemen für die Krisenbewältigung

Matthias Max

Krisen und Katastrophen verändern sich stetig – sowohl in der Wahrnehmung als auch in der Bewältigung. In der Publikation „Hilfeleistungssysteme der Zukunft“ (2022) präsentieren Matthias Max und Matthias Schulze die Ergebnisse aus mehr als zehn Jahren praxisorientierter Sicherheitsforschung im Deutschen Roten Kreuz (DRK).

Die Ergebnisse der DRK-Sicherheitsforschung zeigen deutlich, dass sich etablierte Hilfeleistungssysteme mit einer Reihe von Herausforderungen konfrontiert sehen. Diese umfassen beispielsweise den demografischen Wandel, die Privatisierung der Gesundheitsversorgung, die zunehmende Digitalisierung der Lebenswelt sowie zunehmende Abhängigkeiten von Kritischen Infrastrukturen (KRITIS) und die Auswirkungen des Klimawandels. Zudem wird deutlich, dass die in den lokal spezifischen Sozialräumen etablierten Alltagsstrukturen am besten dazu geeignet sind, die Versorgung der Bevölkerung während Krisen und Katastrophen zu gewährleisten. Dies schließt medico-soziale Versorgungsstrukturen, private und öffentliche Unternehmen mit infrastrukturellen Aufgaben (Energie- und Wasserversorgung, etc.) sowie die Zivilgesellschaft ein.

Zukünftige Hilfeleistungssysteme müssen daher vor allem auch als Unterstützung resilienter Alltagssysteme und Regelbetriebe verstanden werden. Dabei sollten Sozialräume und ihre Alltagsstrukturen in die Vorsorge und Einsatzkonzeption einbezogen sowie Selbsthilfefähigkeiten der Bevölkerung aktiviert werden. Dies bedeutet keine Verschiebung von Verantwortlichkeiten, denn für einen Notfall müssen weiterhin auch Ersatzleistungen angeboten werden können. Ein moderner Bevölkerungsschutz muss jedoch offen für Kooperationen mit und Expertise aus Sozial­räumen sein, um mit und nicht parallel zu Alltagsstrukturen zu arbeiten.

Gesellschaftliche und technische Veränderungen stellen bisherige Strukturen des Bevölkerungsschutzes vor Herausforderungen

Das derzeitige Bevölkerungsschutzsystem verfolgt den Ansatz der Vorhaltung von Ressourcen, die zur Ereignisbewältigung von Krisen und Katastrophen aktiviert werden. Es geht dabei also um Angebote, welche die Alltagssysteme bis zu deren erneuter Funktionalität ersetzen. Allerdings differenzieren sich – einhergehend mit den angesprochenen gesellschaftlichen und technischen Veränderungen – auch die Alltagssysteme, die auf funktionierende Abläufe im Regelbetrieb und die Alltagsversorgung ausgerichtet sind, immer weiter aus und werden komplexer in ihrer Gestalt wie auch in ihrer gegenseitigen Vernetzung. Aufgrund dieser zunehmenden Komplexität scheint eine vollumfängliche und flächendeckende ersatzhafte Vorhaltung durch Strukturen des Bevölkerungsschutzes nicht umsetzbar. Es bedarf deshalb neuer Ansätze. Die aus den Forschungsprojekten gezogenen Erkenntnisse lassen darauf schließen, dass eine Unterstützung der jeweiligen lokalen und etablierten Alltagssysteme durch alle verfügbaren örtlichen Ressourcen unter Mithilfe der Strukturen des Bevölkerungsschutzes zielführend ist. So sollte in erster Linie Bestehendes gehärtet und wo nötig gestützt werden, um Hilfeleistungen an die örtlichen Begebenheiten angepasst und für länger anhaltende Krisen und Katastrophen zukunftsfähig zu gestalten.

Forschungsschwerpunkte: Gesellschaftliche Entwicklungen, Ressourcenmanagement & Resilienz

Der Bevölkerungsschutz steht vor der Herausforderung den skizzierten gesellschaftlichen und technischen Veränderungen durch Anpassung auf praktischer Ebene zu begegnen. Mit Blick auf die Praxiserfahrungen führte das DRK im Jahr 2012 eine allgemeine Bedarfsabfrage im DRK-Verband durch. Im Laufe der Folgejahre wurde diese, basierend auf Einsatzerfahrungen bei der Bewältigung des Hochwassers im Jahr 2013 sowie der Geflüchtetenhilfe 2015/2016, durch weitere Forschungsthemen ergänzt. Dieser ­Themenfindungsprozess bildete die Grundlage für die Weiterentwicklung der Forschungsarbeit, strukturierte dessen inhaltliche Agenda und sorgte gleichsam für eine bedarfs- und anwendungsorientierte Forschung.

Forschungsprojekte des DRK: Beispiele NeuENV und RESIK

Diesen Forschungsbedarfen und Themenschwerpunkten tragen eine Vielzahl von abgeschlossenen und laufenden Projekten Rechnung. Die chronologische Betrachtung zeigt dabei, dass die Projekte aufeinander aufbauen und in ihrer Komplexität zunehmen. Dies lässt sich an zwei Projekten exemplarisch nachvollziehen.

Im Rahmen des Forschungsprojektes „Neue Strategien der Ernährungsnotfallvorsorge“ (NeuENV, 2012-2015) wurden gegenwärtige Ernährungsvorsorgekapazitäten analysiert und darauf aufbauend Handlungsempfehlungen und Leitlinien für AkteurInnen des Bevölkerungsschutzes entwickelt. In abschließender Betrachtung wurde hier deutlich, dass die einzig leistungsfähige Struktur zur Versorgung der Bevölkerung mit Nahrung der Lebensmitteleinzelhandel (LEH) ist. Hilfsorganisationen sind qualitativ und quantitativ nicht in der Lage, diese zu ersetzen. Es wurden drei zen­-
trale Störfaktoren der Lebensmittelversorgung identifiziert: Der (1) Ausfall der Energieversorgung, der (2) Zusammenbruch der Logistik und der (3) Wegfall der personellen Ressourcen. Dem ersten Störfaktor kann vor allem durch technische Lösungen begegnet werden. Die beiden weiteren Störfaktoren können durch zivilgesellschaftliches Handeln gemildert oder sogar verhindert werden. Beispielsweise könnten Freiwillige ersatzweise Aufgaben im Transport, Vertrieb und in der Lagerhaltung übernehmen. Hierfür bedarf es jedoch einer strukturierten Vorbereitung.

Dieser Erkenntnis folgend ist der Sozialraum eine wichtige planbare Größe, um lokale Netzwerke zu etablieren, in denen örtliche Strukturen in der Krisenvorbereitung und -bewältigung zusammenwirken können.

Der Sozialraum und dessen Analyse spielt konsequenterweise im laufenden Forschungsprojekt „Resilienz und Evakuierungsplanung für Sozioökonomische Infrastrukturen im medico-­sozialen Kontext“ (RESIK, 2020-2023) eine wichtige Rolle. Hier wird untersucht, wie die medizinische Versorgung in Krisen und Katastrophen aufrechterhalten werden kann.

Mit Blick auf die Modellregion Krefeld und das Helios St. Josefs­hospital Uerdingen wird im Projekt RESIK das Unterstützungspotenzial von Hilfsorganisationen für die (1) Härtung von Krankenhausstrukturen und Aufrechterhaltung ihrer Handlungsfähigkeit, die (2) Evakuierung von Krankenhäusern und die (3) Koordinierung dezentraler Unterbringung und Versorgung von PatientInnen untersucht. Das übergeordnete Ziel ist die Erstellung von Leitlinien und Planungsinstrumenten für die Prozesskette Krankenhausevakuierung und eine dezentrale Versorgung und Unterbringung.

Die Forschungsprojekte des DRK verdeutlichen die Wichtigkeit einer Neuausrichtung des Bevölkerungsschutzes unter Einbindung von Zivilgesellschaft, medico-sozialen Strukturen und privaten wie öffentlichen Unternehmen. Das Modell des sozialraumorientierten Bevölkerungsschutzes und die Analyse des Sozialraumes, wie sie in RESIK zur Geltung kommt, vermag gesellschaftliche Veränderungen zu erkennen, Ressourcen wie Fähigkeiten zu bündeln und Resilienz auf lokaler Ebene zu stärken.

Weiterhin legen die Ergebnisse nahe, dass eine strategische Neuausrichtung des Bevölkerungsschutzes sinnvoll erscheint, um den gesellschaftlichen Bedürfnissen und Dynamiken in Krisen und Katastrophen gerecht zu werden: Dazu bedarf es der Los­lösung von Strategien, die sich ausschließlich an zurückliegenden Ereignissen orientieren und eine Ersatzvorhaltung anstreben. An ihre Stelle sollte eine Zentrierung auf die spezifischen Bedarfe der Bevölkerung rücken. Deren Erfassung kann durch eine regelmäßige Erhebung von Bedarfen und Fähigkeiten in der Bevölkerung erfolgen.

Hilfeleistungssysteme der Zukunft
Hilfeleistungssysteme der Zukunft
Quelle: Max & Schulze 2022 / Illustration: Christian Lindemann

Modell: Sozialraumorientierter Bevölkerungsschutz & Sozialraumanalyse als ­Planungsgrundlage

Dies kann durch eine Analyse des Sozialraumes geschehen, welche lokal spezifische Gegebenheiten sowie die bestehenden Gefüge an Abhängigkeiten, Bedarfen, sowie Fähigkeiten und Potenzialen zukunftsgerichtet sichtbar macht. Dabei orientiert sich die Sozialraumanalyse maßgeblich an folgenden Handlungsprinzipien: (1) Den Willen und die Interessen der Betroffenen in den Vordergrund stellen, (2) die Selbsthilfe und die Eigeninitiative der Bevölkerung fördern und wenn nötig temporär durch Ersatzleistungen unterstützen, (3) die örtlich verfügbaren Ressourcen als Grundlage nehmen, (4) die konkreten Bedarfe der Betroffenen daraus ableiten und in den Mittelpunkt stellen und (5) alle relevanten AkteurInnen miteinander vernetzen.

Auf der Grundlage der Sozialraumanalyse kann die Zusammenarbeit mit den identifizierten AkteurInnen gezielt initiiert werden. Als grundlegende Herangehensweise kann folgender Dreischritt von Unternehmen, Behörden, medico-sozialen und zivilgesellschaftlichen Strukturen – mit individuell unterschiedlichen Schwerpunkten – genutzt werden: 

Die Bedrohungsanalyse erfolgt entlang der Kritischen (Gesundheits-)Infrastrukturen und gefährdeten Sozialstrukturen. Dabei sind die Energie- und Trinkwasserversorgung von besonderer Bedeutung, da ihrer Störung aufgrund geringer Pufferzeiten zeitkritisch begegnet werden muss. Aus den gleichen Gründen sind auch die Sektoren der Gesundheitsversorgung, der Ernährungsversorgung, Kommunikations- und Informationssysteme sowie der Sektor Kritischer Infrastrukturen mit unterschiedlicher Priorisierung zu betrachten.

Die Fähigkeitenanalyse konzentriert sich auf die im jeweiligen Referenzraum vorhandenen Ressourcen und Kapazitäten. Dabei werden sowohl die allgemeinen gesellschaftlichen, geografischen Größen, wie z.B. Demografie, Wirtschaft oder Infrastruktur, als auch die existierenden, staatlich und nicht-staatlich institutionalisierten Strukturen, wie z.B. Bildungseinrichtungen oder Vereine in den Blick genommen. Die Untersuchung des sozialen Nahbereiches der Bevölkerung im Sinne der Selbst- und Nachbarschaftshilfe spielt hier eine ebenso wichtige Rolle. 

Die Bedarfsanalyse baut auf den registrierten Fähigkeiten des Sozialraumes auf. Anhand der vor Ort vorhandenen Ressourcen und Kapazitäten können die individuell bestehenden Defizite und Bedarfe, die zur Härtung gegenüber den erkannten Bedrohungslagen notwendig sind, erkannt werden, um eine gezielte Unterstützung zu leisten.

Im Rahmen dieses analytischen Dreischritt-Modells werden zum einen Daten zur (sozialen) Infrastruktur in dem jeweiligen Gebiet zusammengetragen, z.B. Angaben zu Energie- und Trinkwasserversorgung, örtlichen Krankenhäusern, Kindergärten, Pflegeheimen, Einrichtungen sozialer Träger etc. Zum anderen sind sozioökonomische und demografische Strukturdaten von Interesse, wie z.B. zu Altersstruktur, Bildungsstand oder Herkunft der ansässigen Bevölkerung. Diese Informationen können Hinweise auf bereits bestehende, alltägliche Bedarfe, Vulnerabilitäten aber auch Fähigkeiten und besondere Ressourcen geben. Unter diesen Gesichtspunkten bildet die Sozialraumanalyse, als Erweiterung der Risikoanalyse, eine Planungsgrundlage für die gezielte Aufnahme und Förderung von netzwerkbildenden Maßnahmen auf lokaler Ebene.

Die gezielte Vernetzung ist eine der wichtigsten Grundlagen für die erfolgreiche Krisen- und Katastrophenbewältigung. Sie kann als Schlüssel für eine effiziente Ereignisbewältigung verstanden werden. Aktuelle und zukünftige Versorgungsstrategien von Helfenden und Betroffenen müssen Aufgabe eines sozialräumlich verankerten Hilfeleistungsnetzwerks sein, das lokale AkteurInnen aus allen relevanten Bereichen, wie z.B. Bevölkerungsschutz, Gesundheitsversorgung, Wirtschaft und Zivilgesellschaft, umfasst.


Hilfeleistungssysteme der Zukunft. Analysen des Deutschen Roten Kreuzes zur...
Hilfeleistungssysteme der Zukunft. Analysen des Deutschen Roten Kreuzes zur Aufrechterhaltung von Alltagssystemen für die Krisenbewältigung
Quelle: Max & Schulze 2022 / Illustration: Christian Lindemann

Ausblick: Hilfeleistungssysteme der Zukunft müssen strukturell neu gedacht werden

Zusammengefasst lassen sich für Hilfeleistungssysteme der Zukunft drei Kernfunktionen herausarbeiten:

Es gilt (1) eine kontinuierliche Vernetzung und Partizipation aller beteiligter Instanzen des Bevölkerungsschutzes im Alltag zu realisieren. Die Strukturen des Bevölkerungsschutzes sollten die AkteurInnen der jeweiligen lokalen Alltagssysteme kennen und sich des komplexen Zusammenspiels dieser Strukturen bewusst sein. In Krisen und Katastrophen gilt es (2) die Alltagssysteme so lange wie möglich aus sich selbst heraus aufrecht zu erhalten. Die komplexen Alltagsstrukturen können nicht ohne Weiteres durch Bevölkerungsschutzleistungen ersetzt oder auch nur aufgefangen werden. Dies kann auch bedeuten, dass (3) bei einem Ausfall der Alltagsstrukturen die AkteurInnen des Bevölkerungsschutzes so lange bedarfsgerechte Ersatzleistungen anbieten, bis die alltägliche Versorgungsstruktur bzw. Normalität wiederhergestellt ist. Ergänzt werden müssen diese Funktionen durch die fachlichen und technischen Spezialisierungen des Bevölkerungsschutzes, die zur Bewältigung von Krisen und Katastrophen weiterhin notwendig bleiben, jedoch in einem situationsbezogenen Zusammenspiel stets neu zu gestalten sind.

Es liegt nahe, dass zukünftige Hilfeleistungssysteme strukturell neu gedacht werden müssen, um sich nicht nur neuen (technischen) Entwicklungen, sondern ebenso gesellschaftlichen Veränderungsprozessen anpassen zu können. Nur so können die Hilfe­leistungssysteme auch in Zukunft größtmögliche Resilienz gewährleisten.

Eine detaillierte Darlegung der Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen zu über zehn Jahren Sicherheitsforschung im DRK findet sich in der Publikation „Hilfeleistungssysteme der Zukunft. Analysen des Deutschen Roten Kreuzes zur Aufrechterhaltung von Alltagssystemen für die Krisenbewältigung“, welche 2022 im Transcript Verlag erschienen ist und als kostenloser PDF-Download bereitsteht.

Weitere Informationen zum Team
"Sicherheitsforschung & ­Innovationstransfer"
finden sich unter www.drk-forschung.de.


Mehr zu den Themen:

Verwandte Artikel

Kommunale Resilienz stärken

Kommunale Resilienz stärken

Die Pandemie hat als multidimensionale Dauerkrise Kommunen an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit gebracht und Defizite im Krisenmanagement offenbart, dabei aber auch zu bemerkenswerten Anpassungen auf der lokalen Ebene geführt.

Leitstelle: Nach der Hitze kommt der Starkregen

Leitstelle: Nach der Hitze kommt der Starkregen

Die Liste von Starkregenereignissen im ‚Sommer‘ 2024 ließe sich noch weiter fortsetzen. Auch wenn tagelange Hitzerekorde im laufenden Jahr ausbleiben, nehmen Extremwetterereignisse in Häufigkeit und Stärke zu.

PMeV gründet Arbeitskreis „Sichere Notfallkommunikation  im Krisenfall für Industrie, Dienstleister und Kommunen“

PMeV gründet Arbeitskreis „Sichere Notfallkommunikation im Krisenfall für Industrie, Dienstleister und Kommunen“

Der Bundesverband Professioneller Mobilfunk (PMeV) hat einen Arbeitskreis „Sichere Notfallkommunikation im Krisenfall für Industrie, Dienstleister und Kommunen“ gegründet.

: