Seit rund 20 Jahren gibt es das Feld der Sicherheitsforschung in Deutschland. Die Frage ist nun: Wie viele Erkenntnisse sind in Technik und Taktik übergegangen – wie viele in Schubladen verschwunden und vergessen? Sie alle haben die Bilder gesehen und die Berichte gehört. Sinzig, Ahrweiler, Erftstadt – Namen, die vormals nur wenig bekannt waren, sind nun untrennbar mit einem Starkregenereignis verbunden, welches Menschenleben gefordert und Zerstörung gebracht hat. Die Aufräumarbeiten werden voraussichtlich noch Wochen andauern. Der Aufbau noch länger.
Eine Katastrophe. Das steht außer Frage. Aber ist es nicht auch gleichzeitig eine Krise? Wortklauberei, werden manche sagen. Doch gilt folgendes: Während eine Katastrophe überwältigend und rein destruktiv ist, ist eine Krise dadurch definiert, dass sie einen Wendepunkt darstellt. Nach einer Krise geht es bergauf und für erkannte Probleme werden Lösungen erarbeitet und umgesetzt. Um Max Frisch zu zitieren: „Krise ist ein produktiver Zustand. Man muss ihm nur den Beigeschmack der Katastrophe nehmen.“
Beginnen wir mit der Betrachtung der kritischen Aspekte. Die Liste der bereits öffentlich formulierten Kritikpunkte ist lang: Unzureichende Warnung, schlechte Vorbereitung, fehlende Selbsthilfefähigkeit der Bevölkerung, Ausfall der Kommunikation, Stromausfall, mangelhafte Einbindung von zivilen Helfenden, schwierige Kooperation innerhalb der zivilen Gefahrenabwehr, etc. Um all dies kurz zu fassen, neigt man zur provokativen Formulierung: Wir stecken mitten in einer Krise des Katastrophenschutzes!
Anerkennung von Komplexität
Zuerst einmal müssen wir uns einer Grundwahrheit stellen: Unsere Welt ist heute komplexer als sie es je war. Das beginnt bei der Infrastruktur und endet bei den aktuellen gesellschaftlich-sozialen Strukturen. Jeder von uns muss sich der zunehmenden Technisierung seiner Umwelt stellen und mit den gestiegenen Ansprüchen im Arbeits- und Privatleben umgehen. Komplex ist auch die Schadenslage beim aktuellen Hochwasser: Das betroffene Gebiet ist groß, die Anzahl der Vermissten hoch, die Statik des Geländes unklar. Alltägliche Grundlagen wie Strom, Kommunikation, Wasser und Nahrung, ein trockener und warmer Schlafplatz fehlen. Heizöl und andere Chemikalien sind im verschlammten Wasser, Straßen sind unpassierbar …
Komplex ist auch die Lage bei der Koordination der Hilfe: Die Akteure sind vielfältig. Sie kommen aus der Gefahrenabwehr (Feuerwehr, Polizei, Hilfsorganisationen), sind Bundeskräfte (THW, Bundeswehr, Bundespolizei) und zivile Helfende sowie Betroffene. Sie alle haben unterschiedliche Standard-Vorgehensweisen. Andere Kommunikationssysteme (sowohl technisch als auch in Fachjargon und Ausdruck). Im föderalen System „funktionieren“ nicht einmal zwei Feuerwehren auf dieselbe Art und Weise. Es trifft also eine komplexe Schadenlage auf ein komplexes System in der Gefahrenabwehr und -bewältigung.
Erfahrungswissen stößt an Grenzen
Wie zuvor festgestellt gilt: Die Schadenlage und das System der Gefahrenabwehr sind komplex. Beide haben viele Komponenten, die auf vielfältige Art und Weise miteinander vernetzt sind und einander beeinflussen. Hinzu kommt eine Welt, die sich immer schneller wandelt und neue Aspekte in den Alltag einbringt. Hier stößt Erfahrungswissen schnell an seine Grenzen. Bedingt durch die schiere Menge an Faktoren ist auch eine Bewegung weg vom „Allrounder“ hin zum Spezialisten sichtbar.
Schnell wird klar, dass es einiger Hilfsmittel bedürfen wird, um mit dieser komplexen und veränderlichen Welt umzugehen. Zum einen sind leistungsfähige Systeme notwendig, zum anderen hochqualifizierte und trainierte Akteure. Dabei müssen Mensch und Technik Hand in Hand arbeiten – und resilient sein. Im Zweifel muss die Lage ohne traditionelle Stromversorgung sowie ohne Daten- und Kommunikationsnetze bewältigt werden. Dafür aber mit vielfältigen Akteuren unterschiedlichster Qualifikation und Ausstattung.
Wenn es darum geht sich mit komplexen Fragen auseinander zu setzen, dann gibt es dafür einen besonderen Berufszweig: Die Forschung. Hier werden alle möglichen und scheinbar auch unmöglichen Ereignisse und Auswirkungen betrachtet, analysiert und Lösungen erarbeitet. Hier werden neue Ansätze entwickelt und auch Ideen für neue Produkte generiert. Im genannten Kontext ist die Anwendungsforschung sicherlich das hilfreichste Mittel, um Komplexität zu begegnen.
Forschung für und mit Anwendung kombinieren
In der Anwendungsforschung wird im Idealfall ein Dreigestirn aus Anwendung, Forschung und Unternehmen (Produkte) bzw. Consulting (Prozesse) gebildet. Dies ermöglicht einen ganzheitlichen Blick auf die akute Problemstellung, die theoretischen Lösungsmöglichkeiten sowie die praktische Umsetzbarkeit. Auf diese Weise funktionieren die meisten Forschungsprojekte auf nationaler und internationaler Ebene. Die Ergebnisse aus diesen Projekten sind häufig zwei Kategorien zuzuordnen: Schriftstücke und Vorträge sowie Demonstratoren und Prototypen. Zum einen werden Zwischen- und Abschlussberichte eingereicht und wissenschaftliche Publikationen veröffentlicht. Auf diese Weise werden Bildung und Forschung vorangebracht. Zum anderen konnten neue Prozesse und technische Lösungen getestet werden. So können sich Industrie und Consulting weiterentwickeln.
Dabei, die Prototypen in marktreife Produkte zu wandeln, kann die Forschungsförderung nicht unterstützen. Dies wäre Wirtschaftsförderung und damit ein anderes Ressort. So kommt bei den Projektpartner*innen aus Unternehmen und Consulting schon einmal das Gefühl auf, so kurz vor der Ziellinie scharf bremsen zu müssen. Eine Marktreife aus eigenen Mitteln zu finanzieren ist teilweise schlicht nicht möglich und der Sicherheitsmarkt scheint oft zu klein und risikoreich für umfangreiche Investitionen.
Und die Anwendung? Immer häufiger hören wir die Frage der Anwender*innen: „Das Ergebnis ist super und löst genau mein Problem! Ab wann kann ich das Produkt/den Prozess dann jetzt einsetzen?“ Auf diese Frage folgt allzu häufig eine Mischung aus betretenem Schweigen und Blicken zu Boden. Im Rahmen vieler Forschungsformate DÜRFEN keine Produkte entstehen, da dies Wirtschaftsförderung wäre. Ohne weitere Mittel oder klare Umsetzungsperspektiven mit lohnenswerter Stückzahl kann leider oftmals keine weitere Produktentwicklung vorgenommen werden. Entsprechend sind den Unternehmen die Hände gebunden. Die Forschung hat am Projektende ihre Ziele erreicht. Sie muss sich um neue Forschungsfragen kümmern.
Transfer von Forschung in die Praxis – unmöglich?
Haben Sie von „PRAKOS“ gehört? Hier wurden „Katastrophenlagen – beispielsweise starke Stürme in unterschiedlichen Gebieten – miteinander verglichen und regionale Unterschiede in ihrer Bewältigung bestimmt.“ Zielsetzung war es, „konkrete Handlungsanweisungen zu formulieren, die zur effektiven Bewältigung eines Großschadensfalles beitragen.“ Klingt, als hätte es in der aktuellen Lage hilfreich sein können. Oder von „EmerGent“? Dies war ein EU-Projekt, das erforscht hat, wie sich relevante Informationen aus den sozialen Medien extrahiert und übersichtlich in einer Software anzeigen lassen.
Das hätte ein sehr hilfreiches Produkt für alle Virtual Operation Support Teams (VOST) sein können, die einen wichtigen Beitrag zur Lagebewältigung leisten. Wie steht es um „INKA“ (Informations- und Kommunikationsanwendungen)? Daraus hat das DRK eine Schriftenreihe erstellt, die zum kostenlosen Download zur Verfügung steht. Thematisch fokussiert sich Band I etwa auf „Die Rolle von ungebundenen Helfer*innen bei der Bewältigung von Schadensereignissen“. Wenn all diese Forschungsprojekte zu keinem greifbaren Ergebnis für die Anwendung und sichtbaren Veränderungen führen, dann müssen wir die Frage stellen: Wo biegen wir falsch ab?
Transfer von Forschung in die Praxis – erste Ansätze erkennbar
Ein Beispiel für ein BMBF-Projekt der Sicherheitsforschung, welches im Bereich Transfer bereits Großes leistet, ist das „A-DRZ“. Die Abkürzung steht für „Aufbau – Deutsches Rettungsrobotik-Zentrum. Im Kern steht hier die Entwicklung innovativer Robotiksysteme zur Nutzung in Rettungseinsätzen. Obwohl erst im Jahr 2018 gestartet, waren die Roboter und menschlichen Bediener bereits in mehrere Reallagen involviert. Zuletzt war das Team aus Feuerwehreinsatzkräften und Forschenden auch in Erftstadt im Einsatz, um die Suche nach Vermissten zu unterstützen und die Entwicklung der Abbruchkante „im Roboter-Auge“ zu behalten.
Ermöglicht wird diese direkte Einbindung in die praxisnahe Anwendung durch verschiedene Faktoren. Zum einen ist der Koordinator des Projektes selbst Anwender: Das Institut für Feuerwehr- und Rettungstechnologie (IFR) ist Teil der Feuerwehr Dortmund. Zum anderen wurde die Technik (obwohl noch im Stand von Prototypen und Demonstratoren) direkt in den Einsatzdienst integriert. Im Fernmeldezug der Feuerwehr Dortmund hat der „Robotik-Leitwagen (RobLW)“ seine Heimat gefunden. Und Endanwender*innen, die diese Technik begeistert mit in reale Einsatzlagen nehmen und dort auf Herz und Nieren prüfen.
Mit „SifoLIFE“ hat das BMBF selbst ein Format geschaffen, welches die Lücke zwischen Forschung und Anwendung schließen soll. Der „Wettbewerb zur Demonstration innovativer Sicherheitslösungen in der Praxis“ ermöglicht es, ein Konzept von der reinen Forschung in die anwendungsnahe Realisierung zu bringen. An diesen Wettbewerb soll sich eine weitere Förderung zur schlussendlichen Umsetzung und Integration in die praktische Anwendung anschließen.
Transfer sicherstellen – Forschungsergebnisse zuverlässig in die Anwendung bringen!
Wie in der Grafik dargestellt verlaufen klassische Forschungsprojekte stets nach etwa demselben Schema. Das Abbruchkriterium ist das Ende der Förderphase.
Obwohl mit SifoLIFe erste Ansätze geschaffen wurden, hier einen Schritt weiterzugehen, muss anerkannt werden, dass dieses Programm am Ende nur fünf Projekte in die praktische Anwendung bringen kann. Damit bleibt das theoretische Wissen aus allen anderen Projekten weiter „transferlos“. Hier MUSS es zukünftig einen Mechanismus geben, der sicherstellt, dass die erzielten Ergebnisse auch wirklich in der Anwendung ankommen. Akute Herausforderungen müssen durch neu erforschte und entwickelte Produkte/Prozesse dauerhaft und nachhaltig gelöst werden. Ein Transfer muss für die Forschung in der zivilen Gefahrenabwehr sichergestellt werden!
Ob Pandemien, riesige Vegetationsbrände oder andere Katastrophen – die Mittel, mit denen wir derartigen Ereignissen begegnen können, sind vorhanden. Wir müssen aber ein System finden, Bedarfe zu formulieren und die Lösungsmöglichkeiten mit Partnern aus Anwendung, Wissenschaft und Unternehmen in die Praxis umsetzen. Hierzu ist eine Bündelung der Aktivitäten aller Akteure gefordert, die sich für die Weiterentwicklung und Verbesserung von Schutz, Rettung und Sicherheit einsetzen. Als Vision könnte ein Zentrum dienen, das innovative Grundlagenforschung, transdisziplinäre Anwendungsforschung und Transfer eng verbindet. Wünschenswert ist eine Institution, welche das Konzept von Innovations-Clustern und anwendungsnaher Exzellenzforschung vereint. Sie könnte als Dachorganisation für nationale und internationale Aktivitäten dienen, die Forschungsarbeiten im Bevölkerungsschutz aufeinander abstimmen und damit zum Medium in der Kommunikation und Moderation beispielsweise zwischen Organisationen, Wirtschaft, Forschungseinrichtungen, Kommunen, Ländern und Bundesregierung werden.
Literaturnachweise bei den Autoren
Crisis Prevention 3/2021
Dirk Aschenbrenner
Seit 2009 Leiter der Feuerwehr Dortmund und seit 2013 Präsident der Vereinigung zur Förderung des Deutschen Brandschutzes e.V.
Nicola Rupp
Seit 5 Jahren hauptberuflich in nationalen und internationalen Projekten der Sicherheitsforschung aktiv. Seit April 2021 bei der Vereinigung zur Förderung des Deutschen Brandschutzes e.V.