Notfallvorsorge und Risikobewusstsein in der Schweiz

eine Standortbestimmung

Christoph Flury

BABS

Der Staat allein kann keinen vollumfänglichen Bevölkerungsschutz sicherstellen. Er ist auf die Mitwirkung insbesondere der Bevölkerung, aber auch von Infrastrukturbetreibern angewiesen. Darüber herrscht unter Experten und in der Politik Konsens. Wie sieht es aber in der Schweiz mit der Partizipation der Bevölkerung mit Blick auf vorsorgliche Massnahmen wie Notvorrat aus? Und: Wie ausgeprägt ist das Risikobewusstsein der Menschen in der Schweiz gegenüber Gefährdungen, die zu einer Versorgungskrise führen können?

Gründe, weshalb die Schweizer Vorräte zu Hause haben
Gründe, weshalb die Schweizer Vorräte zu Hause haben

Im April 2014 erklärte der Chef der Schweizer Armee in einem Interview, er habe stets einen Notvorrat von rund 300 Litern Mineralwasser zu Hause. Grund sei das unberechenbare sicherheitspolitische Umfeld, die heute vielfältigen Natur-, technischen und gesellschaftlichen Gefahren sowie die hohe Verletzlichkeit der Schweiz, die zu einer Versorgungskrise führen können. „Vielleicht müsste man den Leuten sagen: Es ist gut, wenn ihr ein paar Vorräte für den Notfall zu Hause habt.“ Seine Aussagen polarisierten. Neben verständnisvoll-zustimmenden Kommentaren wurde er teils mit Häme und Spott überschüttet, seine Aussagen als Angstmacherei und gar als rhetorischer Rückfall in die Zeiten des Kalten Kriegs qualifiziert.

Im Januar 2017 strahlte das Schweizer Fernsehen SRF eine rund 9 Stunden dauernde Sondersendung zum Thema „Blackout“ aus. Untermalt mit filmischen Episoden und Gesprächen mit Fach­experten wurde ein möglicher Ablauf eines länger andauernden und flächendeckenden Stromausfalls sowie dessen drastische Folgen für die Gesellschaft, die Wirtschaft und insbesondere das Leben der Menschen sehr realistisch dargestellt. Fazit der Sendung: In einem solchen Fall würde in der Schweiz fast nichts mehr normal funktionieren.

Die beiden Beispiele spiegeln doch eine gewisse Diskrepanz zwischen dem Wissen von Experten bezüglich Gefahren und deren Auswirkungen und dem Risikobewusstsein in der Bevölkerung wider. Wie sieht es diesbezüglich in der Schweiz aus?

Die wirtschaftliche Landesversorgung im Wandel

Die Schweiz ist ein kleines neutrales Binnenland und bezüglich Selbstversorgungsgrad stark auf Importe angewiesen. Entsprechend tief verankert ist die wirtschaftliche Landesversorgung (WLV) für Krisenzeiten. Ins kollektive Bewusstsein der älteren Generation hat sich insbesondere die Kriegswirtschaft im Zweiten Weltkrieg eingegraben. So der berühmte Plan Wahlen, die „Anbauschlacht“, mit der die landwirtschaftliche Produktion durch Nutzung leerer Flächen gesteigert werden sollte. Nach dem Krieg konzentrierte sich die WLV zunehmend auf Pflichtreserven, die der Privatwirtschaft auferlegt wurden. Mit dem Ende des Kalten Kriegs richtete sich die Beschaffungspolitik auf Markt­störungen aus, bei der Pflichtlagerhaltung wurde der Fokus auf Grundnahrungsmittel wie Zucker, Speiseöl und Getreide, Energiequellen wie Benzin und Heizöl sowie Medikamente (Antibiotika, Impfstoffe) gelegt. Der Bedarf an diesen Produkten soll im Krisenfall für drei bis sechs Monate gedeckt werden.

Im Unterschied zu anderen Ländern steht in der Schweiz primär die Privatwirtschaft und nicht der Staat in der Verantwortung. So sind die Importeure gesetzlich verpflichtet, einen Teil der Produkte mit Blick auf Versorgungskrisen einzulagern. Im Gegenzug übernimmt der Bund die Kosten für die Lagerhaltung dieser Pflichtreserven, die rund 15 Franken pro Kopf und Jahr betragen.

Die WLV verfügt über ein differenziertes Instrumentarium an Interventionsmassnahmen, um die Versorgung im Krisenfall sicherzustellen. Auf Seite der Angebotslenkung beinhalten diese Pflichtlagerfreigaben oder Exportrestriktionen, auf Seite der Nachfragesteuerung stehen Kontingentierungen – z. B. Netzabschaltungen, Verbrauchseinschränkungen oder Rationierungen im Vordergrund.

Immer wieder auftretende produktionsbedingte technische oder logistische Probleme, aber auch schlechte Ernten in den Herkunftsländern oder langandauernde Verkehrsstörungen lassen die Pflichtlagerhaltung nach wie vor als sinnvoll erscheinen. Beispiele aus den letzten Jahren sprechen dafür: Im Herbst 2018 mussten etwa Pflichtvorräte von Mineralölen, Dünge- und Futtermittel freigegeben werden, da aufgrund des niederen Rheinpegels der Transport stark eingeschränkt war. Ein Jahr zuvor betraf dies auf Grund einer weltweiten Verknappung eines Antibiotikums die Medikamentenvorräte.

App ALERTSWISS des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz.
App ALERTSWISS des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz.

Vom normierten zum individualisierten Notvorrat

„Kluger Rat – Notvorrat“: Mit diesem eingängigen Slogan hat der Bund während des Kalten Krieges jahrzehntelang für einen „eisernen Vorrat“ zur Überbrückung von längeren Krisenzeiten geworben. Art und Umfang des für jede Person erforderlichen Notvorrats für zwei Monate wurden detailliert vorgegeben. Dieser sollte für zwei Monaten ausreichen. Die letzte landesweite Kampagne mit Empfehlungen zum Notvorrat lancierte der Bund kurz vor dem Fall der Berliner Mauer 1988.

Der Slogan, den fast 50 % der Bevölkerung kennen, hat weiterhin Bestand, die Zielsetzungen haben sich aber verändert. Im Vordergrund steht heute ein kürzerer Versorgungsausfall, der Notvorrat soll die Zeit überbrücken, bis die verschiedenen Massnahmen der WLV greifen. Insofern informieren die Behörden heute zurückhaltender und das Konzept hat sich den stark gewandelten Lebens- und Essgewohnheiten angepasst. Oder anders ausgedrückt: Weg von staatlichen Vorschriften, hin zu Appellen an die individuelle Selbstverantwortung. Ziel ist es nun, dass sich die Bevölkerung eine Woche lang selbst versorgen kann. 

Die Philosophie: Es gibt keinen idealen Notvorrat, dieser soll vielmehr den persönlichen Vorlieben entsprechen und im normalen Alltag laufend verbraucht und wieder ersetzt werden. Einzige Ausnahme: Empfohlen werden 9 Liter Wasser pro Person, was dem Bedarf für drei Tage entspricht. Danach müssen die Behörden die Trinkwasserversorgung wieder sicherstellen.

Traditionellere Informationsmittel
Traditionellere Informationsmittel: Informationsbroschüre und Checkliste zu den Schutzmassnahmen und dem richtigen Verhalten bei einem Kernkraftwerkunfall

Notvorrat: wichtigste Ergebnisse einer Umfrage 2017

Wie sieht es nun mit der Notvorratshaltung der Schweizer Bevölkerung in der Realität aus? 2017 wurde eine gesamtschweizerische Umfrage bei 3000 zufällig ausgewählten Personen aus allen drei Sprachregionen durchgeführt. Auf die Frage, für wie viele Tage die Nahrungsmittel- und Trinkwasservorräte im jeweiligen Haushalt ausreichen würden, gaben fast drei Viertel (72 %) an, für diese Zeit über lagerfähige Vorräte zu verfügen. In fast einem Viertel (23 %) der Haushalte ist sogar die dreifache Menge davon oder mehr vorhanden. 

Anders präsentiert sich die Situa­tion bei einem Stromausfall, der Kochen oder Kühlen unmöglich macht. Rund 70 % der Haushalte verfehlen in diesem Fall die Empfehlungen. Bei einem ebenso grossen Anteil (70 %) liegen auch die Trinkwasservorräte unter der empfohlenen Menge für drei Tage – der Durchschnitt aller Befragten liegt bei 2.2 Tagen. Umgekehrt sind ergänzende, für den Krisenfall empfohlenen Güter wie Taschenlampen, Ersatzbatterien, Kerzen oder Medikamente in den allermeisten Haushalten vorhanden, in je knapp einem Drittel fehlen allerdings stromunabhängige Radios sowie Gaskocher.

Die Umfrage zeigt weiter, dass der Anteil der Bevölkerung mit zu geringen Vorratsmengen tendenziell in städtischen Gebieten, in der französisch sprechenden Schweiz, bei unter 40-jährigen Personen und solchen mit sehr tiefen oder sehr hohem Einkommen bzw. höherer Ausbildung zu finden ist. Aufschlussreich sind die Begründungen für das Halten eines Vorrats. Von rund zwei Dritteln der Befragten wird als häufigste Antwort angegeben, nicht jeden Tag einkaufen zu wollen, es folgen die Nutzung von Preis­aktionen oder für spontane Besuche gerüstet zu sein – die Befürchtung einer Versorgungskrise steht an letzter Stelle. Nur gerade 15 % der Befragten geben dies bewusst als hauptsächlichsten Grund an. Kurzum: Eine grosse Mehrheit scheint sich offensichtlich wenig Sorgen über eine zeitweise Unterbrechung der Lebensmittelversorgung zu machen.

Gestiegenes Risikobewusstsein in der Bevölkerung

Gemäss einer jährlich durchgeführten repräsentativen Umfrage verharrt das allgemeine Sicherheitsempfinden auf einem sehr hohen Niveau: rund 95 % der Schweizer Bevölkerung fühlen sich „eher“ oder „sehr“ sicher. Umgekehrt belegen empirische Untersuchungen aus den Jahren 2011 und 2017 einen doch hohen Sensibilisierungsgrad gegenüber Katastrophenrisiken, wobei die allgemeine Gefährdungswahrnehmung für alle Gefährdungen teils stark angestiegen ist. Insbesondere technische Gefahren wie Cyber-Angriffe oder ein Stromausfall rangieren 2017 an oberster Stelle. Zudem hat sich die Einschätzung bezüglich der Eintrittswahrscheinlichkeit dieser Gefahren ebenfalls deutlich erhöht.

Parallel zur gestiegenen Gefährdungswahrnehmung hat auch das Informationsbedürfnis zugenommen, insbesondere mit Bezug auf die „neueren“ technischen Gefahren. Hier scheint eine gewisse Diskrepanz zwischen Informationsbedarf und Informationsangebot zu bestehen: Über 70 % der Befragten geben an, sich gar nicht oder schlecht informiert zu fühlen. Dies erklärt wohl die Tatsache, dass ein Ausfall der Stromversorgung oder der IKT von weniger als 20 Prozent der Befragten in Verbindung mit einer Versorgungskrise gebracht wird.

Notfalltreffpunkte als Anlaufstellen für die Bevölkerung im Ereignisfall.
Notfalltreffpunkte als Anlaufstellen für die Bevölkerung im Ereignisfall.

In der Vorsorgekommunikation sind heute das Internet als Hauptmedium, aber auch Mobile Apps sowie Social-Media-Kanäle stark nachgefragt und benutzt – dies von rund 70 % der Befragten. Offensichtlich haben aber traditionelle Informationskanäle wie gedruckte Broschüren, die in die Haushalte verschickt oder bei den Behörden bezogen werden können, nach wie vor grosse Bedeutung: Rund 60 % der befragten Personen wünschen sich Informa­tionen auf diesem Weg. Die Studie kommt zum Schluss, dass angesichts des hohen Sensibilisierungsgrades der Bevölkerung zusätzliche behördliche Massnahmen über relevante Gefährdungen nicht dringend sind. Defizite bestehen allerdings bei den oben erwähnten „neueren“ Gefährdungen, bei denen die Erfahrung der Bevölkerung im Umgang noch weitgehend fehlt.

Vorsorgekommunikation ist und bleibt zentral

Wie sind die Resultate bezüglich Risikowahrnehmung und Selbstvorsorge zu werten? Sicher – als Katastrophenschützer wünscht man sich natürlich mehr: Mit etwas Pragmatismus kann der Stand aber dennoch als gut beurteilt werden. Umso mehr, als die Menschen in einem sehr sicheren Land leben, das über sehr gut ausgebaute Schutz- und Rettungsdienste sowie staatliche Leistungen verfügt. Gerade dies könnte ja – im Sinne eines Sicherheitsparadoxes – umgekehrt zu einer stark reduzierten individuellen Vorsorge führen. 

Anzumerken bleibt zudem, dass die Schweiz in den letzten Jahrzehnten von grossflächigen oder langanhaltenden Katastrophen verschont blieb, insofern fehlen auch diesbezügliche kollektive Erfahrungen. Die Umfrageergebnisse zeigen weiter, dass Vorsorgemassnahmen eher dann getroffen werden, wenn diese im Alltag und nicht nur im Ereignisfall nützlich und wertvoll sind. Der Zweck wird also erfüllt, auch wenn viele Haushalte einen „Not“-Vorrat aus anderen Gründen als eine Krisenlage halten.

Trotz diesem Befund bleibt die vorsorgliche Kommunikation weiterhin ein zentraler Faktor. Verschiedene Informationsmaßnahmen zeigten in den letzten Jahren offensichtlich Wirkung. Die entsprechenden Informationsplattformen werden rege genutzt und stossen in der Bevölkerung auf wachsende Akzeptanz. Zu erwähnen ist die im Jahr 2015 vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz BABS lancierte App „Alertswiss“. Diese Plattform stellt Informationen für die Bevölkerung über mögliche Gefährdungen und entsprechende Vorsorge- und Verhaltensmassnahmen zur Verfügung und bietet konkrete Vorlagen für die Erstellung eines Notfallplans. 

Seit 2018 dient sie auch als Warn-, Alarmierungs- und Informationskanal im Ereignisfall. Das BABS setzt zudem auf traditionelle Kommunikationswege. So hat es etwa im Nachgang zu Fukushima mehr als 600 000 Haushalten im 20km-Umkreis von Kernkraftwerken aufwendig produzierte Informationsunterlagen zukommen lassen, zusammen mit Jodtabletten.

Erwartet wird aber auch eine konkrete staatliche Unterstützung im Ereignisfall: Daher hat das BABS zusammen mit ausgewählten Kantonen ein Konzept zu „Notfalltreffpunkten“ entwickelt. Diese haben die Funktion einer Anlaufstelle im Ereignisfall oder wenn – wie bei einem „Blackout“ – buchstäblich nichts mehr geht. Die jeweiligen Standorte werden der Bevölkerung mittels Flyer vorgängig bekannt gemacht und sind permanent gekennzeichnet. Betrieben werden sie vom Zivilschutz und bieten neben Informationen auch weitere Leistungen wie Trinkwasser- und Lebensmittelabgabe oder erste Hilfe. Letztendlich basiert eine wirkungsvolle Krisenvorsorge auf dem Engagement und abgestimmten Massnahmen aller beteiligten Akteure – des Staates, der Einsatzorganisationen, der Infrastrukturbetreiber und der Bevölkerung.

Literatur beim Verfasser
Alle Bilder: BABS


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